April 10, 2010


Schwerkraft ist auch nur relativ –

Thomas Stüssi bei Janine Bean.

War wohl genau der Ort, an dem man an diesem Freitagabend sein musste: Wagner und Stüssi in der Jeanine Bean Gallery. Durch die verglaste Galeriefassade hindurch trifft der Blick auf eine riesige Installation: ein vom Boden bis zur Decke den Raum greifendes Kartenhaus, es steht auf dem Kopf. Die Größe zieht an, Rein da, unbedingt! Drinnen nicht krampfiger Smalltalk, sondern beschwingt alles, fast Partygefühl, irgendwie im flow und eben nicht höfliches, mit gekreuzten Beinen und in kleinen Grüppchen — JA ich bin kunstbegeistert, warst du letzen Freitag auch bei… ?, Nein?, hast was verpasst. Sondern Freunde die sich treffen, voll ist’s und die Leute versperren den Blick auf die Kunst — kann ich kurz? Im hinteren Teil der Galerie lädt Two Window Projekt ebenfalls zur Vernissage und zeigt Stink! Stink! = in Farbigkeit und Stil an Graffiti angelehnte Malerei: fragmentierte, sich doppelnde Menschen im freien Fall; Sogbewegung nach unten ohne definierbaren Hintergrund, ohne Raum vor und in den die Menschen fallen, anonym. In Kombination mit Stüssi und Wagner und all dem Drumherum eigentlich perfekt: Dynamik. Und wenn man älter wäre spräche man wohl von Jugendlichkeit, von Dingen wie Kraft und Elan oder von dem Berlin-Mitte, so angesagt, so trendy. Jetzt aber Stüssi.

„Genau der Ort, an dem man an diesem Freitagabend sein musste?“ Genau der Ort – Sein – und damit ist schon ziemlich genau auf den Punkt gebracht, was bei Thomas Stüssi nicht der Fall ist. Er macht das mit den Orten und den an sie gebundenen Funktionaliten nämlich ein bisschen anders. Er unterzieht sie einer Wandlung. In seinen Installationen entwendet er den Orten, Räumen, Dingen ihre eigentliche, ihre angestammte Funktions- und Gebrauchsweise und deutet sie einfach um, macht sie einfach mal anders und, warum denn auch nicht? Beispiele: Das überproportioniert große Kartenhaus steht auf dem Kopf, ist einfach umgedreht, die breite Fläche balanciert auf der Spitze. Gravity is our Friend, hier läuft die knallblaue Farbe aus dem Farbeimer an die Decke, sie läuft an die Decke und tropft eben gerade nicht von ihr herab. Der dicke gelbe Bagger in Introverted Excavator hängt schief an der Wand und schaufelt in Schräglage den Ausstellungsboden aus. Kopfüber hängt in Stüssis Wohnzimmer auch die Stehlampe an der Decke. Er hat es nicht so mit den Kräften und Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft, er hebelt sie einfach aus und verleiht so den Dingen, den Räumen und auch dem Betrachterblick eine unerwartete Leichtigkeit. Wie schwerelos eben. So als fiele das Gewicht der Naturgesetze und der Regelhaftigkeiten von ihnen ab, einfach so. Eine Art Erleichterung. Dabei sind Stüssis Eingriffe in die von ihm bearbeiteten Orte ganz unscheinbar, kleine Kniffe nur. Einmal umgedacht, und Raumerlebnis und Wahrnehmung sind eine andere, komplett. Mittendrin in seinem Atelier ist ein alter, schwerer Sessel, aber er steht nicht auf dem Boden. Stüssi hat ihm unter die klobigen Füße klein Holzstäbchenkonstruktionen gebaut – der Sessel schwebt jetzt. Ist in seinem Charakter durch solche Kleinigkeit schon verwandelt, die Perspektive auf ihn eine gänzlich andere. Denn was zählt, ist nicht die große Geste; es geht nicht um Künstlichkeit. Der Reiz liegt vielmehr in der Entfremdung des Bestehenden, in der Herausforderung, die das Vorhandene immer stellt – Your Private Bubble schafft in einem vollgestellten Raum einzig mithilfe einer dünnen Folie und einem Gebläse einen leeren Raum, schafft Freiraum, ohne dass sich am eigentlichen Raum etwas veränderte. Er wird nur mit Folie überzogen, nicht mehr.

Und so kommen Stüssis Arbeiten zwar ziemlich knallig daher, sind so präsent wie gelbe Bagger und rote Kartenhäuser eben sind. Aber ihrer Idee nach sind sie leise. In seinem Atelier liegt auf dem Schrank ein filigranes, weißes Holzstäbchengestell. — Ach so ja, da hab ich mal versucht ‘ne Wolke zu bauen, sagt er.


KONSTANZE SEIFERT.


Mario Wagner und Thomas Stüssi – EXTRAORDINARY MISTAKES –

20. März bis 17. April 2010

Janine Bean Gallery – Torstraße 154 – 10115 Berlin

www.janinebeangallery.com