Dezember 06, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

Von Joerg Reichard, Fotograf.

TEIL 5

Ichbruchstück.

Ich habe keine Lieblingsfarbe. Mit zwölf wurde ich am Knie operiert. Seitdem renne ich nicht gern. Wenn ich das Rennen vermeiden kann, renne ich nicht. Hohe Schuhe machen mir Angst. Ich rauche. Aber nicht viel. Ich kann Leute nicht verstehen, die viel rauchen. In der U-Bahn sitze ich in der Mitte oder am Gang. Wenn ich am Fenster sitze, fühle ich mich eingesperrt von der Person neben mir. Ich mag es nicht, wenn ich aufstehe und mich an Beinen vorbeidrängeln muss. Ich weiß, wie ein Blick aussieht, der bricht. Das ist ein Moment, in dem die Augen des Gegenübers ihren Ausdruck ändern, weil sie nach innen blicken auf die Verletzung, aber den Stich nicht zeigen wollen. Ich kann mit Menschen brechen. Ich habe oft mit Menschen gebrochen. Ich bin aus ihrem Leben verschwunden, oder sie aus meinem. Es passiert mir, dass ich Kleidung kaufe und sie nicht anziehe. Mein Kleiderschrank ist voll. In der Stadt mich zu orientieren fällt mir schwer. Wenn ich an einen neuen Ort muss, bin ich nervös. Ich versuche mir das nicht anmerken zu lassen. An meine Kindheit erinnere ich mich jeden Tag. Wie mein Kuscheltier roch, weiß ich noch genau. Der Spielplatz, auf den ich immer gegangen bin, war gleich bei uns um die Ecke. Als Kind bin ich einmal umgezogen. Ich bin nicht verheiratet. Ich will auch nicht heiraten. Das Wort Heirat bringe ich mit Nachttischlampe in Verbindung. Ich habe keine Kinder. Ich habe lange keinen interessanten Menschen kennengelernt. Es wird immer schwieriger, jemanden zu finden, mit dem ich richtig sprechen kann. Die meisten Gespräche enden im Kompromiss. Ich lebe mit meiner Freundin zusammen. Sie ist meine erste richtige Beziehung. Ich frage mich, ob ich andere Frauen haben werde. Ich weiß, wie Liebe sich anfühlt. Es passiert mir, dass ich vergesse, wo ich am Vorabend das Auto geparkt habe. Ich gehe allein in Bars. Es stört mich nicht, das allein zu tun. Ich bin gern allein. Ich habe das Gefühl mich zu verlieren, wenn ich mit vielen Menschen gleichzeitig zusammen bin. Ich trinke allein. Es stört mich, wenn Paare zeigen, dass sie ein Paar sind. Zärtlichkeit gehört für mich nicht in die Öffentlichkeit. Kaffee trinke ich schwarz und mit Zucker. Ich trinke zum Frühstück einen Kaffee und einen nach der Arbeit. Der Kaffee ist das erste, was ich mache, wenn ich nach Hause komme. Weihnachten ist mir die schlimmste Zeit. Ich weiß nie, was ich verschenken soll. Die Geschenke, die ich bekomme, gefallen mir selten. Ich sehe darin Dinge, die meine Wohnung zustellen. Es fällt mir schwer, mich dafür höflich zu bedanken. Beim Sex habe ich es lieber, wenn das Licht aus ist. Ich mag meinen Körper nicht sehr. Meinem Freund sage ich, dass es für mich im Dunklen intensiver ist. Ich bin verheiratet. Ich habe eine Tochter. Sie ist neun Jahre alt. Sie spielt viel mit Playmobil und nicht gern mit Puppen. Ich habe Angst, abends nicht einschlafen zu können. Ich setze mich unter Druck aus Angst, am nächsten Morgen müde zu sein und den Tag nicht zu schaffen. Ich koche gern. Essen ist mir wichtig und ich gebe Geld dafür aus. Ich esse jeden Tag einmal warm. Ich mag kein helles Licht. Ich verstehe Menschen nicht, die sagen, ohne Musik nicht leben zu können. Ich finde das übertrieben. Ich erinnere mich genau an meinen Schulweg. Wenn ich auf meinem Schulweg allein durch die Straßen gelaufen bin, habe ich mich groß gefühlt, wie die Erwachsenen. Ich bin gern zur Schule gegangen. Die meisten Menschen langweilen mich. Ich buche keinen Pauschalurlaub. Unsere erste Wohnung war winzig. Für Möbel hatten wir kein Geld. Die erste Zeit schliefen wir mit der Matratze auf dem Boden. Wir rauchten die ganze Zeit. Wenn ich an mein Leben denke, ist sie immer da. Sie ist Teil all meiner Erinnerungen. Ich esse nur rote Marmelade. Bei gelber Marmelade denke ich, sie schmeckt sauer, obwohl das nicht stimmt. Pflanzen gehen bei mir ein. Ich vergesse ihnen Wasser zu geben. Ich habe kein Glück mit Pflanzen. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule machen werde. Ich kann mir noch kein Leben vorstellen. Ich will Kinder haben, das weiß ich. Ich lese jeden Tag Zeitung. Die Meinungsseite und den Feuilleton lese ich nicht. Ich kaufe mir die Zeitung für den Politikteil. Seit meiner Führerscheinprüfung bin ich nicht einmal Auto gefahren. Es ist mir peinlich. Ich schäme mich deswegen vor anderen und vor mir selbst. Ich mag Frauen mit langen Haaren. Kultur ist mir nicht wichtig. Ich finde sie entbehrlich. Ich glaube nicht an Gott. Ich trage meist Turnschuhe. Ich achte auf mein Äußeres. Ich will dabei nicht übertrieben wirken. Ich möchte mich nicht für meine Entscheidungen rechtfertigen. Im Café bestelle ich Milchkaffee oder Cappuccino. Ich entscheide mich spontan. Hinterher weiß ich oft nicht, was ich gesagt habe. Ich schaue jeden Tag fern. Ich brauche das, um mich entspannen zu können. Ich weiß nicht, was ich abends sonst machen soll. Meine Frau geht einkaufen und ich regle das Finanzielle. Wir haben zwei Kinder. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir nur ein Kind. Ich verreise nicht gern. Ich bin nicht gern von zuhause weg. Ich brauche meine Routinen. Ohne meine Routinen habe ich das Gefühl, alles bricht über mir zusammen. Meine Arbeit hat mir immer Spaß gemacht. Ich hätte gern Sex mit einer Schwarzen. Mein erstes Tagebuch war rosa und hatte eine Katze auf dem Einband. Ich schwimme gern. Es fällt mir schwer, mich durchzusetzen. Jedes Jahr will ich mindestens einmal verreisen. Ich habe Angst vor dem Alter. Neben meiner Wohnung ist ein Park. Ich telefoniere nicht gern. Wenn mein Mann geschäftlich unterwegs ist, habe ich Angst, dass er mich betrügt. Ich könnte ihm das nicht verzeihen. Ich würde mich dann trennen.

Eindringling. bohren. Langsam sich tiefer graben, vorwärts. Immer dort, wo’s weh tut. Störenfried. durcheinandergewürfelt. Alles anfassen und jede Figur an einen anderen Platz stellen, bis das Spiel nicht mehr das selbe ist und keiner sich mehr zurechtfindet in ihm. Fremdling. anders. Vorher waren die Gedanken so nicht, Richtungswechsel jetzt, weil eine neue Idee hat sich unter ihnen breit gemacht. Schleicher. stückchenweise. Was klein war erst und nur als Ahnung da, wächst langsam und stetig.

Die Ruhe geht mit dem Zweifel, sie ist dann dahin. An ihrer statt: Unruhe. Ist das Unvermögen still zu stehen, an einen Punkt zu kommen, Halt zu machen.

Zweifel verbietet den Gedanken ihren Frieden.

Zweifel peitscht die Gedanken übers Feld.

Zweifel treibt die Gedanken von einem Ort zum andren hin.

Zweifel frisst Sicherheit auf.

Zweifel nimmt Gewissheit fort.

„im Dunklen tappen“

„in der Luft hängen“

„hin und her gerissen sein“

Es hat etwas von Schwanken oder schwindelig sein, wenn Zweifel das Feste schwinden macht.

Überzeugungen werden porös.

Meinungen werden aufgeraucht.

Am Wissen wird feste genagt.

Man spricht dann im Allgemeinen vom Scherbenhaufen, Trümmerfeld, du kennst dich nicht mehr aus in dir.

Erkenntnis:

Grundfeste sind nicht fest.

Verlieren der Orientierung bei Wegbrechen der Wegmarken.

Infizierung hinterlässt dauerhafte Schäden. Was einmal zerschlagen wird nie mehr wieder ganz gesund.

Vom Zweifel angesprungen,

Wie im freien Fall,

Nur noch nach unten,

Wo soll das enden?


1. Was, wenn ich mich selbst belüge? und den Beruf, den ich ausübe, nicht leiden kann, die Frau, mit der ich verheiratet bin, nicht liebe, die Kinder, die meine sind, mich nichts angehen, die Freunde, die ich so nenne, mir fremd sind, das Glück, welches ich doch habe, mein Unglück ist.