Messlatte.
Sie kann groß sein und umfassend und hört sich dann so an: Wie ist das Leben so leer und bedeutungslos! – Man begräbt einen Menschen; gibt ihm das Geleit, man wirft drei Spaten Erde auf ihn; man fährt hinaus in der Kutsche, man fährt heim in der Kutsche; man tröstet sich damit, dass noch ein langes Leben vor einem liege (…). Das belastende unendlich belastende, stockende, erstickende, das beklemmende Gefühl der Langeweile und des Überdrusses, Sattsein, des nicht Wissens wo nur hin mit sich, des trägen von Hier nach Da, eben das Inhaltslose der Langeweile beschreibt Kierkegaard so. Antonioni spricht auch von ihr und wie er von ihr spricht! Bei ihm nistet sie sich ein in einem Blick ; oder im langsamen Streifen, fast schon Streicheln, einer Hand über die Tischplatte, blankgeputzt ; oder wenn man sich im Spiegel die Augenbrauen glättet, nutzlos, weil der der‘s sehen soll ja doch nicht kommt und man es aber trotzdem tut – um die Zeit zu füllen ; oder im Getriebenen, Rastlosen, sich à tout prix an eine Sache Klammernden der Menschen, die vor seiner Kamera auf- und abgehen, die angegangen sind, bedroht von der Leere um sie… um uns herum. —
Diese Langeweile ist groß weil grundsätzlich, Statement, weil These. Sie blockiert, sie lähmt, zerfasert alles, weiß im Vorhinein um die Sinnlosigkeit – et alors elle abandonne, lässt es sein, schlaff zieht sich die Hand in den Schoß zurück weil sie hat es sich anders überlegt, lieber doch nicht. Solche Langeweile erzählt, sie spricht von etwas, deswegen ist sie spanend.
Daneben gibt es die kleine Langeweile. Langeweile, nicht Kurzweil. Die kleine Langeweile schleicht sich ein einfach so, ist undercover. Dass sie da ist, merkt man nicht zwingend, so geschickt wickelt sie sich in die Dinge, mit einer so dünnen Haut überzieht sie den Raum, in dem sie herrscht und spinnt ihn ein wie eine Spinne. Die kleine Langeweile hält sich versteckt. Sie stellt sich nicht zur Schau wie ihre große Schwester. Sie ist nicht Thema und damit sich selbst genug, nein, sondern ist immer nur dort, wo das Thema fehlt. Wo die Frage fehlt. Wo Dringlichkeit abgeschaffen. Wo die Suche eingestellt. Oder nie begonnen hat? Die kleine Langeweile zieht sich zähflüssig dahin. Und ist dennoch produktiv, ist umtriebig dabei. Sie macht.
Hier eine Zeichnung, dort Skulptur oder ein Gedicht, Installation, Collage. Performance. Die kleine Langeweile speit sich aus, spuckt sich aus, zappelt, lärmt und blinkt und hinterlässt ihre Spuren in den allermöglichsten Formen – sie ist beliebig. Oftmals nennt man das Kunst.
Weil die kleine Langeweile Abwesenheit von Problem und Reibung ist, erfindet ihr die Kunstkritik kurzerhand beides, dichtet ihr Spannungsfelder an, die sie nicht hat, denn keine Grenzen sind der Interpretation gesetzt: Die Kritik sieht Transformation wo nur Materialspielerei ist ; verwechselt ausversehen Gebastel mit Grenztestung, mit dem Ausreizen von Material und Gedanken ; nimmt Rekurs auf das Metaphysische und blickt dabei galant über schluderiges Handwerk hinweg. Warum? Weil die Kritik sich von der kleinen Langeweile hat infizieren lassen. Etikettenschwindel. Einmal angesteckt, vollführt sie dieselbe Bewegung: sie treibt, sie sprießt, ist produktiv und blumig. Sie tönt und übertönt die Stille im Reich der kleinen Langeweile. Verdeckt dort die Leere, so dass man nicht hineinfällt, HUCH! Vernissagen sind immer so ausgelassen. Stöckelschuhe und Proseccogläser staksen über das Nichts, über die Stille, die Langeweile hinweg. Kunstkritik dekoriert am liebsten mit Fremdwörtern = Camouflage. Kurz: Entertainment! Und die kleine Langeweile wütet, hat ausgelassen ihren Spaß.
Und mir ist langweilig.
© Konstanze Seifert.
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