Dezember 06, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

Von Joerg Reichard, Fotograf.

TEIL 5

Ichbruchstück.

Ich habe keine Lieblingsfarbe. Mit zwölf wurde ich am Knie operiert. Seitdem renne ich nicht gern. Wenn ich das Rennen vermeiden kann, renne ich nicht. Hohe Schuhe machen mir Angst. Ich rauche. Aber nicht viel. Ich kann Leute nicht verstehen, die viel rauchen. In der U-Bahn sitze ich in der Mitte oder am Gang. Wenn ich am Fenster sitze, fühle ich mich eingesperrt von der Person neben mir. Ich mag es nicht, wenn ich aufstehe und mich an Beinen vorbeidrängeln muss. Ich weiß, wie ein Blick aussieht, der bricht. Das ist ein Moment, in dem die Augen des Gegenübers ihren Ausdruck ändern, weil sie nach innen blicken auf die Verletzung, aber den Stich nicht zeigen wollen. Ich kann mit Menschen brechen. Ich habe oft mit Menschen gebrochen. Ich bin aus ihrem Leben verschwunden, oder sie aus meinem. Es passiert mir, dass ich Kleidung kaufe und sie nicht anziehe. Mein Kleiderschrank ist voll. In der Stadt mich zu orientieren fällt mir schwer. Wenn ich an einen neuen Ort muss, bin ich nervös. Ich versuche mir das nicht anmerken zu lassen. An meine Kindheit erinnere ich mich jeden Tag. Wie mein Kuscheltier roch, weiß ich noch genau. Der Spielplatz, auf den ich immer gegangen bin, war gleich bei uns um die Ecke. Als Kind bin ich einmal umgezogen. Ich bin nicht verheiratet. Ich will auch nicht heiraten. Das Wort Heirat bringe ich mit Nachttischlampe in Verbindung. Ich habe keine Kinder. Ich habe lange keinen interessanten Menschen kennengelernt. Es wird immer schwieriger, jemanden zu finden, mit dem ich richtig sprechen kann. Die meisten Gespräche enden im Kompromiss. Ich lebe mit meiner Freundin zusammen. Sie ist meine erste richtige Beziehung. Ich frage mich, ob ich andere Frauen haben werde. Ich weiß, wie Liebe sich anfühlt. Es passiert mir, dass ich vergesse, wo ich am Vorabend das Auto geparkt habe. Ich gehe allein in Bars. Es stört mich nicht, das allein zu tun. Ich bin gern allein. Ich habe das Gefühl mich zu verlieren, wenn ich mit vielen Menschen gleichzeitig zusammen bin. Ich trinke allein. Es stört mich, wenn Paare zeigen, dass sie ein Paar sind. Zärtlichkeit gehört für mich nicht in die Öffentlichkeit. Kaffee trinke ich schwarz und mit Zucker. Ich trinke zum Frühstück einen Kaffee und einen nach der Arbeit. Der Kaffee ist das erste, was ich mache, wenn ich nach Hause komme. Weihnachten ist mir die schlimmste Zeit. Ich weiß nie, was ich verschenken soll. Die Geschenke, die ich bekomme, gefallen mir selten. Ich sehe darin Dinge, die meine Wohnung zustellen. Es fällt mir schwer, mich dafür höflich zu bedanken. Beim Sex habe ich es lieber, wenn das Licht aus ist. Ich mag meinen Körper nicht sehr. Meinem Freund sage ich, dass es für mich im Dunklen intensiver ist. Ich bin verheiratet. Ich habe eine Tochter. Sie ist neun Jahre alt. Sie spielt viel mit Playmobil und nicht gern mit Puppen. Ich habe Angst, abends nicht einschlafen zu können. Ich setze mich unter Druck aus Angst, am nächsten Morgen müde zu sein und den Tag nicht zu schaffen. Ich koche gern. Essen ist mir wichtig und ich gebe Geld dafür aus. Ich esse jeden Tag einmal warm. Ich mag kein helles Licht. Ich verstehe Menschen nicht, die sagen, ohne Musik nicht leben zu können. Ich finde das übertrieben. Ich erinnere mich genau an meinen Schulweg. Wenn ich auf meinem Schulweg allein durch die Straßen gelaufen bin, habe ich mich groß gefühlt, wie die Erwachsenen. Ich bin gern zur Schule gegangen. Die meisten Menschen langweilen mich. Ich buche keinen Pauschalurlaub. Unsere erste Wohnung war winzig. Für Möbel hatten wir kein Geld. Die erste Zeit schliefen wir mit der Matratze auf dem Boden. Wir rauchten die ganze Zeit. Wenn ich an mein Leben denke, ist sie immer da. Sie ist Teil all meiner Erinnerungen. Ich esse nur rote Marmelade. Bei gelber Marmelade denke ich, sie schmeckt sauer, obwohl das nicht stimmt. Pflanzen gehen bei mir ein. Ich vergesse ihnen Wasser zu geben. Ich habe kein Glück mit Pflanzen. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule machen werde. Ich kann mir noch kein Leben vorstellen. Ich will Kinder haben, das weiß ich. Ich lese jeden Tag Zeitung. Die Meinungsseite und den Feuilleton lese ich nicht. Ich kaufe mir die Zeitung für den Politikteil. Seit meiner Führerscheinprüfung bin ich nicht einmal Auto gefahren. Es ist mir peinlich. Ich schäme mich deswegen vor anderen und vor mir selbst. Ich mag Frauen mit langen Haaren. Kultur ist mir nicht wichtig. Ich finde sie entbehrlich. Ich glaube nicht an Gott. Ich trage meist Turnschuhe. Ich achte auf mein Äußeres. Ich will dabei nicht übertrieben wirken. Ich möchte mich nicht für meine Entscheidungen rechtfertigen. Im Café bestelle ich Milchkaffee oder Cappuccino. Ich entscheide mich spontan. Hinterher weiß ich oft nicht, was ich gesagt habe. Ich schaue jeden Tag fern. Ich brauche das, um mich entspannen zu können. Ich weiß nicht, was ich abends sonst machen soll. Meine Frau geht einkaufen und ich regle das Finanzielle. Wir haben zwei Kinder. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir nur ein Kind. Ich verreise nicht gern. Ich bin nicht gern von zuhause weg. Ich brauche meine Routinen. Ohne meine Routinen habe ich das Gefühl, alles bricht über mir zusammen. Meine Arbeit hat mir immer Spaß gemacht. Ich hätte gern Sex mit einer Schwarzen. Mein erstes Tagebuch war rosa und hatte eine Katze auf dem Einband. Ich schwimme gern. Es fällt mir schwer, mich durchzusetzen. Jedes Jahr will ich mindestens einmal verreisen. Ich habe Angst vor dem Alter. Neben meiner Wohnung ist ein Park. Ich telefoniere nicht gern. Wenn mein Mann geschäftlich unterwegs ist, habe ich Angst, dass er mich betrügt. Ich könnte ihm das nicht verzeihen. Ich würde mich dann trennen.

Eindringling. bohren. Langsam sich tiefer graben, vorwärts. Immer dort, wo’s weh tut. Störenfried. durcheinandergewürfelt. Alles anfassen und jede Figur an einen anderen Platz stellen, bis das Spiel nicht mehr das selbe ist und keiner sich mehr zurechtfindet in ihm. Fremdling. anders. Vorher waren die Gedanken so nicht, Richtungswechsel jetzt, weil eine neue Idee hat sich unter ihnen breit gemacht. Schleicher. stückchenweise. Was klein war erst und nur als Ahnung da, wächst langsam und stetig.

Die Ruhe geht mit dem Zweifel, sie ist dann dahin. An ihrer statt: Unruhe. Ist das Unvermögen still zu stehen, an einen Punkt zu kommen, Halt zu machen.

Zweifel verbietet den Gedanken ihren Frieden.

Zweifel peitscht die Gedanken übers Feld.

Zweifel treibt die Gedanken von einem Ort zum andren hin.

Zweifel frisst Sicherheit auf.

Zweifel nimmt Gewissheit fort.

„im Dunklen tappen“

„in der Luft hängen“

„hin und her gerissen sein“

Es hat etwas von Schwanken oder schwindelig sein, wenn Zweifel das Feste schwinden macht.

Überzeugungen werden porös.

Meinungen werden aufgeraucht.

Am Wissen wird feste genagt.

Man spricht dann im Allgemeinen vom Scherbenhaufen, Trümmerfeld, du kennst dich nicht mehr aus in dir.

Erkenntnis:

Grundfeste sind nicht fest.

Verlieren der Orientierung bei Wegbrechen der Wegmarken.

Infizierung hinterlässt dauerhafte Schäden. Was einmal zerschlagen wird nie mehr wieder ganz gesund.

Vom Zweifel angesprungen,

Wie im freien Fall,

Nur noch nach unten,

Wo soll das enden?


1. Was, wenn ich mich selbst belüge? und den Beruf, den ich ausübe, nicht leiden kann, die Frau, mit der ich verheiratet bin, nicht liebe, die Kinder, die meine sind, mich nichts angehen, die Freunde, die ich so nenne, mir fremd sind, das Glück, welches ich doch habe, mein Unglück ist.

November 24, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

Von Joerg Reichard, Fotograf.

TEIL 4


Endlich Wochenende.

Die rechte Hand umgreift das Messer, es ist silbern. Sie könnte mit dem Messer auch einfach eine feine Scheibe abschneiden. Stattdessen stochert die rechte Hand mit dem Messer in der Butter rum. Regelrechte Krater furcht die rechte Hand mit ihrem Messer in die Butter rein. Setzt mit dem Messer von Neuem an und immer wieder von Neuem, weil das Butterstück, das es jetzt endlich abgetrennt, aufgespießt hat, fällt vom Messer ab, immer wieder, fällt in seinen Schoß zurück, klatscht also auf das große Butterstück rauf, in dem seit seinem Fehlen ein Krater klafft. Die linke Hand hält kein Messer. Sie greift das auf die zerkraterte Butter gefallene Butterstück mit Zeigefinger und Daumen und hält das Butterstück, das schon dreimal vom Messer in der rechten Hand Gefallene, mit Zeigefinger und Daumen umgriffen. Es fühlt sich kalt an. Es beginnt zu schmelzen. Es hinterlässt zwischen den Fingern seine schlierige Spur. Den Fingern wird das Feuchtkalte zwischen sich unangenehm, zur Zumutung fast. Sie schütteln es von sich, angewidert von dem Gefühl, das es ihnen gibt, und drücken es in den weichen Brötchenteig rein. Der Teig ist weiß. Er sieht trocken aus, als müsste man viel trinken, um ihn runter zu bekommen. Oder als bräuchte er viel von der Butter auf sich, um im Mund erträglich zu sein, machbar. Das Brötchen ist aufgeschnitten, halbiert in zwei Hälften, es liegt nur eine Hälfte auf dem Teller. Der Teller ist auch weiß. Die Brötchenhälfte liegt dem weißen Teller auf, auf dem auch Krümel liegen. Kleine, gelbbraune Krustensplitter liegen, die vom Brötchen, als es festgehalten von der linken und zerteilt von der rechten Hand mit dem silbernen Messer in ihr, abgesprungen sind. Als die andere Brötchenhälfte, jetzt nicht mehr zu sehen, in den Mund gegangen und von Zähnen durchteilt, sind auch seine Krümel, das heißt gelbbraune Krustensplitter von ihm, auf den Teller gefallen. Darum liegt die Brötchenhälfte auf dem weißen Teller inmitten lauter Krümel. Der Zeigefinger drückt das Butterstück, das unter seiner Berührung schmilzt, in den weißen und löchrigen Brötchenteig rein. Es hinterlässt auf seiner Haut eine kalte Spur, oder einen Film. Der Zeigefinger ist jetzt feucht von der kalten Butterstückspur auf ihm. Das Butterstück klebt jetzt auf dem weißen, löchrigen Brötchenteig, sieht wie hingekliert aus, da fährt die rechte Hand mit dem Messer in es rein, zerteilt es mit seiner Spitze, der Messerspitze, spreizt es auseinander, macht es breit und flach und das nur, um seine Fläche zu vergrößern. Das Messer bügelt das Butterstück platt, also verteilt es auf dem weichen, löchrigen Brötchenteig. Das Messer drückt das Butterstück in den weichen, löchrigen Brötchenteig und zerfurcht, wie zuvor das große Butterstück, auch diesen. Auf dem Teller hat die Brötchenhälfte jetzt in der Mitte einen Krater, einen Krater wie auch die Butter von der Wucht des Messers einen Krater hatte, der von einer dünnen, ungleichmäßigen Butterschicht bedeckt ist. Kann ich das Salz haben, bitte? Es steht direkt vor dir. Ich habe nicht gesehen, dass das Salz direkt vor mir steht. Die rechte Hand greift nach dem durchsichtigen, kegelförmigen Salzstreuer und zwar mit Schwung. Er ist bis knapp unter die Hälfte mit weißem Zeugs gefüllt, das unter der Bewegung der rechten Hand zur Seite kippt und am Innenrand des duchsichtigen, kegelförmigen Salzstreuers einen aufgeschütteten Haufen bildet. Hier, dein Salz. Danke. Sie beobachtet wie er hastig das Salz auf die Brötchenhälfte unter ihm schüttet. Die Hälfte fällt daneben auf den weißen Teller und mischt sich unter die gelbbraunen Krümel auf ihm. Es fällt auch Salz neben den Teller, auf die weiße Tischdecke. Die hatte sie vorher noch gebügelt. Sie kann diese brüsken Bewegungen von ihm nicht ertragen, fühlt sich von ihnen angegriffen, auch wenn sie ihr nicht gelten. Ihr Körper verkrampft sich, wenn sie seine Hände so beim Zupacken sieht. Findet ihn, wie er vor ihr das Salz auf seine Brötchenhälfte schüttet, grob und unansehnlich. Seine Hände agieren in allem wie ein Schlachter, der die vor ihm aufgereihten Kadaver zerteilt, findet sie und kann sich nicht helfen. Sie findet ihn roh. Ihr vergeht der Appetit. Keine Falten in der Tischdecke, doch man sieht, dass sie schon oft gewaschen wurde, weil sie hat einen Graustich. Jetzt liegen Salzkörner auf der Tischdecke und sie fragt ihn, ob er ihr den Kaffee reichen kann, bitte. Kannst du mir den Kaffee reichen, bitte? Die linke Hand schiebt die Glaskanne, in der der Kaffee und auf deren Boden sich braune Kaffeepampe, in der sich also der Kaffeesatz sammelt, zur Mitte des Tisches hin. Hier. Die linke Hand zieht sich zurück, hebt die Glaskanne, in der der Kaffee, nicht an und schenkt auch keinen in ihre Tasse ein. Kannst du mir einschenken, bitte? Sie will, dass er ihr einschenkt. Sie will, dass er sich die Mühe macht und den Kaffee in ihre Tasse schüttet. Sie besteht darauf, weil sie will, dass er sich bemüht um sie. Die rechte Hand greift also zum Henkel der gläsernen Kaffeekanne, in der sich unten der Kaffeesatz, hebt sie an und neigt sich, den Henkel fest umgriffen, soweit nach vorn über, bis die braune Flüssigkeit aus der Kanne läuft und in ihre Tasse klatscht. Bis der Kaffee in ihre Tasse klatscht. Stellt dann die Kanne zurück auf die weiße Tischdecke, die nicht eine Falte hat, zwischen sie beide. Die gläserne Kaffeekanne, in der sich unten der Kaffeesatz und die einen schwarzen Henkel hat, steht jetzt zwischen ihnen beiden auf dem weißen Tischtuch. Sie soll verdammt solchen Gesten keinen Wert beimessen. Es ist ihm völlig egal, ob er ihr den Kaffe in die Tasse klatschen lässt, oder ob sie das selbst tut. Es kümmert ihn nicht. Es bedeutet ihm nichts. Es ist kein Liebesbeweis, er beweist ihr seine Liebe so nicht, so doch nicht. Sie macht darin Zeichen seiner Anerkennung ihrer aus, seiner Aufmerksamkeit. Sie fühlt sich von ihm umsorgt, wenn er ihr den Kaffee einschenkt, wenigstens wahrgenommen, wenn er solche Dinge für sie tut. Sie verlangt, dass er ihr Aufmerksamkeit schenkt und mit ihr spricht. Sie will sprechen und es ist ihr auch egal worüber, Hauptsache es hört die belastende Stille auf. Hauptsache nicht mehr ihre Wut, wenn sie ihn nicht ertragen und sich nicht beherrschen kann. Wie sie ihn dann hasst. Sie müssen doch irgendetwas teilen. Die rechte Hand greift nach der Brötchenhälfte, die ein Krater ist, in dem eine ungleichmäßige Butterschicht klebt und auch Salz, und führt sie zum Mund, der sich öffnet und Zähne zeigt. Zahnreihen, die sich voneinander trennen und nach der Brötchenhälfte packen, sich auf die Brötchenhälfte stürzen, die ein Krater mit unregelmäßiger Butterschicht und auch Salz ist, erstechen einen Teil der Brötchenhälfte, die Zähne beißen zu, beißen etwas von ihr ab, was dann im Mund verschwindet und hinter den Zähnen ist das Abgebissene jetzt weg. Die rechte Hand legt nach dem Biss die lädierte Brötchenhälfte zurück auf den Teller unter ihr. Sie soll verdammt aufhören in ihn hineinzulesen, was dort nicht ist. Er will nicht sprechen. Er hat nichts zu sagen, ihr hat er nichts zu sagen, schon lange nicht mehr, weil sie ödet ihn an und manchmal schnürt sich ihm alles zu bei ihrem Anblick, das heißt ihrem leidenden, anklagenden Blick auf ihm. Er findet sie schwer und erstickend, sie zu sehen heißt Tonnen auf den Schultern zu haben und ihre Vorwürfe scheppern in seinen Ohren, selbst wenn sie nichts sagt scheppert es. Was machst du heute? Ich weiß es nicht. Gar nichts. Lesen vielleicht. Ich weiß nicht, was ich heute mache. Gar nichts. Mich ausruhen. Die linke Hand greift nach der Tasse, in der ist eine braune Flüssigkeit. Sie hebt die Tasse an den Mund, dessen Lippen sich öffnen und dann die Tasse umschließen. Der Tassenrand ist kalt, er hinterlässt einen Moment kalt auf der Innenseite der Lippen, im Mund. Die Flüssigkeit ist heiß und braun und sie berührt die Zunge, fließt auf ihr lang bis zu ihrem Ende hin und stürzt dann die Kehle hinab. Sie nimmt einen Schluck Kaffee. Was machst du heute? Sie weiß nicht, was sie heute macht. Sie hat keine Pläne. Sie würde etwas mit ihm machen, vielleicht. Müssen sie doch mal wieder Zeit miteinander verbringen, als Paar. Sie weiß nicht, was sie heute tut. Sie weiß nicht, wie sie den Tag heute füllt, hat absolut keine Ahnung und er kommt ihr unendlich lang vor, der Tag macht ihr Angst. Sie weiß nicht, was sie alleine machen soll. Ich habe zu tun, so viele Sachen, um die ich mich kümmern muss. Die Brötchenhälften gegessen, der Kaffee getrunken stehen sie auf und räumen wortlos den Tisch ab. Jeder geht seiner Wege dann, in der gemeinsamen Wohnung. Auf der weißen Tischdecke ohne Falte liegen Brötchenkrümel, auch Salz. Sonst nichts.

KONSTANZE SEIFERT.

Oktober 18, 2010

Messe, Masse, messen. —

Preview und artforum 2010.

Natürlich, Kunstmessen sind Orte der Kunst, denn nirgends sonst tritt die Kunst in so geballter Ladung auf. Aber auch und vor allem sind Kunstmessen Orte der Wahrheit. Nirgends sonst ist das gegenseitige sich Messen der Positionen untereinander so deutlich, nirgends sonst bricht es mit so einer brutalern Ehrlichkeit und Deutlichkeit durch. So läuft man an manchem Stand einfach vorbei, streift ihn höchstens mit dem Blick, da man weiß, und zwar sofort: eingehende Betrachtung, Zuwendung und Interesse lohnen hier nicht. Obgleich, das Linksliegenlassen der einen und die Begeisterung für die nächste Koje, beides ist nicht geschmacksgebunden, das muss betont werden: Es geht hier nicht um Geschmack. Es geht um die Kunst. Darum, ob sie groß ist und etwas zu sagen hat. Oder klein ist und nur um den eigenen Radius sich dreht. Nochmal, das Urteil hierüber fällen nicht die subjektiven Vorlieben des Betrachters, nein, ihr Urteil fällt die Kunst sich selbst. Sie ist ihre eigene Richterin. Und der aufmerksame Betrachter, er liest in ihrem Urteil nur.

Auf der diesjährigen PREVIEW nun, hat die Kunst sich nicht angestrengt, gar nicht. Kaum waren da echte Positionen zu finden; man sah kaum mehr, als eine lange Aneinanderkettung von vornehmlich sich um das Künstler-Ich drehenden Spielereien. Soviel Selbstbespiegelung, so wenig Denken über das eigene Ich hinaus ( – und überhaupt: wo war der Gedanke?, wo die Auseinandersetzung hin? – ). So wenig Aufbegehren, so wenig Haltung. Nicht einmal Gewalt, Brutalität, Sex, Schocker waren zu finden – obwohl sowas, wo nichts anderes mehr geht, doch immer geht. Stattdessen zeigte sich die Preview artig, präsentierte gepflegte Langeweile, hatte viel Süßes im Angebot.

Unter solchen Kunst-Nettigkeiten kommen die Fotografien des israelischen Fotografen Pini Siluk (vertreten durch die Münchner Galerie mbf-Kunstprojekte) als regelrechte Wachmacher daher. Siluk zeigt Nachtleben in Tel Aviv, zeigt Exzess und vermischt diesen mit politisch Provokantem – mit Stacheldraht vorm vernarbten Jesusgesicht, mit einem sich heißmachenden, verführenden, so sexy Schwulenpaar, mit einer von der Feierei fertigen, im Sessel hängenden Braut. Dahingestellt sei, was von solchen am Kitsch haarscharf vorbei schliddernden Bildern zu halten ist. Zugutekommt ihnen, dass die Fotografien von etwas sprechen, dass sie in einem aufgeheizten Diskursraum Position beziehen, dass sie etwas in die Waagschale werfen, sich exponieren als Angebot. Lust am Anecken, an der Provokation beweist auch die Arbeit von Simone Häckel (vertreten durch Scotty Enterprises, Berlin). Ihre Videoarbeit zeigt das Porträt eines kleinen Mädchens, das, unendlich absorbiert – vermutlich von einem Fernseher, doch wovon genau, das gibt die Arbeit nicht preis – mit den klassisch großen blauen Augen, dem blonden Haar und dem halb offenen Mund, förmlich gefesselt ist und, tief atmend, fasziniert auf einen Punkt nur starrt. Dabei führt sie kleine, minimalsichtbare, regelmäßige Bewegungen aus – wahrscheinlich kratzt sie sich einfach am Knie, drückt ihre Puppe, was auch immer. Und doch: Alle Unschuld, Unvoreingenommenheit, Klarheit, die von diesem Kleinmädchengesicht ausgeht, für den erwachsenen Betrachter hat dieses absolut zurückgenommene Videoporträt unweigerlich einen perversen Touch. Der Erwachsenenblick findet dieses kleine Mädchen einfach pervers, ist in seinem Denken gegen die von ihr ausgehende Erotik schlichtweg machtlos. So. Diese Arbeit sitzt. Und verrät dem Betrachter Sachen von sich, auf die er, wahrscheinlich, lieber verzichtet hätte. Die aus Holz geschnitzten Kinderfiguren des südtiroler Künstlers Gerhard Demetz (vertreten durch Galleria Rubin, Italien) stehen stramm. Die Beine leicht gespreizt, das erhöht die Standfestigkeit, sehen sie aus wie Soldaten, die aufs Gefecht sich einstimmen. Leer geht ihr Blick ins Unbestimmte, in den Händen halten sie Arbeitsgerät, Ölfläschchen, Hammer, Scheren es könnten auch Bomben, Granaten, Maschinengewehre sein. Das passt, denn hinten sind ihre Körper offen, sind hohl. Oder zerfetzt. Trotzdem stehen sie unverwüstbar, wie Maschinen, eben seelenlos und unempfindlich. In ihrer absoluten Nüchternheit sind diese Kinderfiguren erbarmungslos und bewegend. Umso mehr, da von ihnen nichts Belehrendes ausgeht, sie sich nicht in Politik versuchen, souverän auf die große Geste zu verzichten wissen.

Anders das ARTFORUM 2010. Hier wird die große Geste geschwungen, aber hier ist das auch erlaubt, denn hier leitet sie sich nicht aus dem Normativen ab, sondern vom Können. Können überall, Kunst, toll und hohes Niveau! Erst den dritten Stand passiert und schon fängt es an mit Eigen + Art: Außenwand: Tuschezeichnungen von Yehudit Sasportas, die wieder an Zäune, Explosionen und Zerfetztes erinnern, drinnen: Malerei, Neo Rauch, natürlich, auch Tim Eitel, Martin Eder, und bemalt/beschriebene Kartonplatten von Birgitt Brenner. Können also hoch4! Natürlich, war ja auch zu erwarten. Was bleibt da, neben einem aufgeschnappten Dialogfetzen, auch noch groß zu sagen übrig? „Was soll denn der Eitel dort vorne kosten? 140.000 Euro. Aha, ok“, sagt die Besucherin und geht… Hinten dann, am Ende des Gangs und rechter Hand, Arndt. Zeichnungen und Installation von Ralf Ziervogel, der sowieso wieder in aller Munde war, ganz aufgeregt waren sie alle. Das liegt, neben Rummel und Ruhm, auch an den Zeichnungen, deren Akribie und Detailreichtum, deren manischen Gewaltexplosionen, dargestellt in brutal verliebter Perfektion und Vollendung, man sich kaum entziehen kann. Ziervogels Handwerk, sein Humor, die schamlose Übertreibung, Klarheit und Kürze im Gedanken, seine absolut große Geste eben, bestechen. Es lässt sich nicht anders beschreiben, man kann es nicht anders sagen. Groß weiter geht es rechts daneben, Galerie Yvon Lambert zeigt Douglas Gordon und es lässt sich kaum glauben, dass diese unterschiedlichsten Arbeiten ein und demselben Künstlerkopf entstammen, denn so divers sind sie in Sprache, Medium, Ausdrucksform. Verstörend sensibel und einfach nur schön die Videoarbeit Ever, After, All In The Light in der ein weißer Pfau vor beige-braunem Gemäuer alleine seine Bahnen zieht. Der Pfau läuft hin und her, mehr nicht. Ist in dieser Einfachheit Poesie, Melancholie, Langsamkeit. Unheimlicher sind, in der gegenüberliegenden Ecke der Ausstellungskoje platziert, die schwarzen Raben der Videoarbeit Looking Down With His Black, Black Ee. Hier zeigt Gordon nicht mehr und nichts anderes, denn die unruhigen schwarzen Vögel. Mehr braucht es auch nicht, die Vögel erzielen, indem sie unbeobachtet, aggressiv, königlich und stolz ihrem Nachtgeschäft nachgehen, Wirkung genug. Grell, trashig wirken neben diesen leisen Videoarbeiten Gordons Collagen. Sechs Stück an der Zahl, präsentiert jeweils unter Glashaube und auf Apothekerschränkchen. Präsenz und nackte, ungezierte Körperlichkeit ist da. Gordon mischt hier alles: Sex, barbusige und aus Schnitten blutende Frauen; als ethisches Beiwerk daneben immer wieder Bücher mit sprechenden Titeln wie Choosing the best way of life. Eingerahmt sind diese Arbeiten, der Vollständigkeit halber, noch von zwei Textarbeiten: I am the author of my own adiction, heißt es auf der einen Wand, um dem Betrachter auf der gegenüberliegenden Stellwand dann zu versichern: I am the director of my own downfall. Wobei – ganz Vanitas! – die Buchstaben der jeweils letzten Wörter nicht ausgefüllt schwarz sind, sonder einzig mit der Andeutung ihrer sich zufrieden geben – so als wäre eh schon immer klar, dass die lebenspraktische Umsetzung solcher Maximen, nun ja, ein bisschen schwierig ist. Halle 20, Galerie Daniel Templon, Paris mit Oda Jaune und Norbert Bisky. Bisky, das ist der ewig schöne, rosa-orangene Jung-Männeroberkörper, nackt, schön, in sich gekehrt, erhaben gegenüber der Welt, selbst wenn die Welt hinter ihm in der Sintflut zu versinken droht. Biskys Held kommt davon und damit auch sein vor lauter Lebendigem und Jugend und Kraft überbordender Körper – Danke! Neben diesem Sprudelnden ist die von Oda Jaune abgebildete Körperlichkeit mehr Krankheit als anderes. Größer könnte der Kontrast nicht sein. Ein fahles, verformtes Körperstummelwesen im kühlblauen Licht, aber noch schlimmer ist der Faltenwurf der weißen reinen unbefleckten Bettwäsche: so akkurat, so penibel, so neurotisch, so kalt, so gut – Hilfe! Fredric Snitzer Gallery, Miami zeigt Hernan Bas und diese kleinformatige, zurückgenommene, sensible, intensive Malerei hat in ihrer Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit etwas Heilsames. Ganz unprätentiös steht da ein junger Mann, halb nackt, nur in hochgekrempelter Hose und mit der Zigarette in der Hand vor einer offenen Kiste, aus der lauter Weiß raus quillt. Als stünde er vor den Trümmern seiner Vergangenheit. Als müsste er erst mal eine rauchen, damit das Gefundene sacken kann. Der Betrachter wohnt da einem intimen Moment bei, in der ganzen kleinen Malerei steckt Wahrheit drin. Contemporay Fine Arts, Berlin zeigen Schaukästen, das heißt viel eher zeigen sie Ganze-Welt-Kästen von Max Frisinger. Die monsterschweren Glasvitrinen borden über vor so viel Welt und Ding, Objekthaftigkeit und Sache. Da wird einem ganz schwindelig bei. Auch die schicke Italienerin lässt es einem ganz schwindelig zumute werden: „Was soll ein Kasten kosten? 35.000 Euro. Und wenn ich zwei nehme? Dann auch. Gut. Ich bin gleich wieder da, hohle kurz meinen Mann, ich muss mit ihm den Transport besprechen.“ Zwei ältere, distinguiert aussehende Männer haben diese Szene beobachtet, woraufhin der eine seinem Begleiter gesteht: „Also, ich bin wohl zu blöd für die Kunst.“

KONSTANZE SEIFERT.

Oktober 11, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

von Joerg Reichardt, Fotograf.

TEIL 3

WIR.

- Wie geht’s dir mit ihm?

- Ach, uns geht’s gut, danke.

- Wirklich?

- Jaja, wirklich, echt. Es ist manchmal schon fast unheimlich, wie gut wir uns verstehen, ich wundere mich ja selbst. Wir streiten fast nie. Also ich meine, klar haben wir schon ab und zu kleine Auseinandersetzungen. Sowas bleibt ja in der besten Beziehung nicht aus, sowas ist ja ganz normal in einer Partnerschaft. Und wenn man dann auch noch zusammen wohnt und sich jeden Tag sieht, dann sind so kleine Reibereien ja normal. Aber meist sind das wirklich nur Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Im Großen und Ganzen streiten wir eigentlich nie. Und er ist auch wirklich immer so süß zu mir, liest mir quasi jeden Wunsch von den Augen ab. Er will einfach, dass es mir gut geht und ich glücklich bin, und es geht ihm auch nur gut, wenn es mir gut geht. Er ist so zuvorkommend, liebevoll zu mir. Langsam haben wir auch unsere kleinen Routinen gefunden, unseren Rhythmus, sind mittlerweile ein richtig eingespieltes Team geworden. Wir ergänzen uns so gut. Er setzt mich jetzt morgens immer auf der Arbeit ab, ist ja auch wirklich viel praktischer so. Den Zweitwagen, also mein altes Auto, das haben wir jetzt nämlich verkauft, lohnt sich ja auch gar nicht in der Stadt. Außerdem haben wir fast den gleichen Arbeitsweg, da können wir ruhig auch zusammen fahren, haben wir uns gedacht, ist eh viel schöner. Denn da haben wir immer noch einen kleinen Moment nur für uns, bevor die Arbeit, also bevor der Tag so richtig anfängt. Auf dem Rückweg holt er mich dann auch immer vom Büro wieder ab.

- Echt?

- Jaja, klar! Manchmal muss ich dann zwar ein bisschen länger machen und auf ihn warten, wenn es sich bei ihm im Büro nach hinten verschiebt, wenn noch was Dringendes auf den Tisch kommt und so, aber das mache ich gern, das stört mich wirklich überhaupt nicht. Und außerdem mag er es nicht, wenn ich die U-Bahn nehme, denn man weiß ja nie, was da für Gestalten unterwegs sind, sagt er, und er könnte es sich auch nie verzeihen, wenn mir etwas zustoßen würde, denn er kann sich nicht mehr vorstellen, ohne mich zu leben, sagt er. Er sagt, ich sei sein Ein und Alles. Ist es nicht rührend wir er sich um mich sorgt? Und nach der Arbeit, da gehen wir manchmal noch was essen. Oder ich koche was für uns, aber meist nur eine Kleinigkeit, einen Salat oder so, nichts Besonderes, abends soll man ja eh nicht mehr so schwer essen, wegen der Verdauung und so, und außerdem träumt man dann schlecht. Doch, wir verstehen uns wirklich gut, alles Bestens. Ach ja, und letzten Samstag waren wir auch mal wieder aus, mit unseren Freunden. Erst waren wir im Theater und haben dort dieses Stück von diesem neuen jungen Regisseur gesehen, und dann sind wir alle noch schön essen gegangen, zu viert. Ein richtiger Pärchenabend, sozusagen. Die beiden sind auch wirklich so nett, wir verstehen uns so gut und haben so viel Spaß zusammen. Am Sonntag sind wir dann rausgefahren, einfach mal raus aus der Stadt, spazieren gehen, Natur sehen, mal so richtig die Seele baumeln lassen und sich entspannen. Unser Urlaub ist ja jetzt auch schon wieder so lange her. Wie die Zeit vergeht! Unterwegs haben wir dann dieses kleine Café gefunden, stell dir vor, die hatten sogar selbstgebackenen Apfelkuchen, meinen Lieblingskuchen, weißt du doch. Und auf dem Rückweg sind wir dann noch schnell bei seinen Eltern vorbei gefahren, nur kurz Hallo sagen. Die freuen sich doch immer so wenn sie uns sehen, die beiden. Ich sag dir, die sind wirklich allerliebst zusammen, noch so fit für ihr Alter, so voller Tatendrang. Und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind und sie auch nicht mehr arbeiten müssen, genießen die beiden ihr Leben noch mal in vollen Zügen. Wir haben dann alle noch zusammen Abendbrot gegessen und sind dann aber nach Hause gefahren, weil es war schon spät und stadteinwärts ist sonntags abends ja auch immer Stau, und außerdem muss man am nächsten Morgen ja auch wieder früh raus, ins Büro.

- Schön! Mensch, das hört sich ja alles wirklich richtig gut an, rundherum zufrieden siehst du aus. Beneidenswert!

- Ja! Ist es auch! Es ist wirklich gut mit uns. Wir sind glücklich zusammen. Wir verstehen uns gut, kommen gut miteinander aus, wir lachen viel, kümmern uns umeinander, machen eigentlich alles zusammen, können über alles offen reden, er versteht mich, wir vertrauen uns, sind uns treu, wir lieben uns. Wir sind glücklich miteinander, wir lieben uns.

- Und der Sex?

- Ach, na der ist natürlich auch gut. Aber du weißt ja wie das ist, irgendwann ist das mit dem Sex gar nicht mehr so wichtig, dann rücken andere Sachen in den Vordergrund, Wichtigeres. Und außerdem haben wir beide auch gerade so viel zu tun im Büro. Da ist man froh, wenn man abends dann seine Ruhe hat und einfach zusammen einschlafen kann. Du kennst das doch, du weißt doch wie das ist.

- Ich weiß wie das ist, verstehe. Irgendwann ist man froh, wenn man seine Ruhe hat.



KONSTANZE SEIFERT.


» Wie Welt sich anfühlen kann. «

Zu den Zeichnungen von Jochen Schneider.

schschschschschschschschschschschsch

Rauschen.

Sei still jetzt, dann kannst du es hören,

sei jetzt still, dann merkst du auch das Fließen,

Grenzen können durchlässig werden, weißt du nicht mehr?

Nimm dich zusammen, Konzentration, wenn du aufmerksam nach innen hörst, ist es dort.

Leises.

rauschschschschschschen.

Stilles.

Kratzen vom Bleistift auf Papier.

Eintöniges.

kchchchchchchchchch

Es verlässt dich nicht.

kchchchchchch

Langsames.

Es hört nicht auf.

Fließendes.

Es zieht immer stärker an dir, bis du

kchchchchchchganz voll davon, Grenzen können durchlässig, du weißt es jetzt wieder, nur noch darum geht es jetzt, das Geräusch und du, es saugt dich auf, Bleistiftkratzen auf Papier, nur Geräusch, Bewegung, rhythmisch, bis dein Körper langsam ins Papier geschmolzen ist.

Über fließt der Körper ins Papier und drückt dort als Form sich aus. Und zwar als reine Form, als Form, die keiner Geometrie, keiner Geradlinigkeit mehr gehorchen muss. Ziemlich unförmig geht es zu in Jochen Schneiders Zeichnungen. Oder urwüchsig. Auch unheimlich. Weil so unkonventionell. Weil so schwierig einzuordnen. Weil so eine Nähe ausgeht von ihnen. Sie rücken regelrecht auf den Leib. Das ist gewollt, denn es geht diesen Arbeiten um Körperlichkeit, um ungezierte, uncodierte Körperlichkeit. Die Zeichnungen kümmern sich mehr um das Erfassen von Massigkeit – etwa von Ausdehnung im Raum, Gewicht oder Emotion – denn um die Begrenzungen und genauen Proportionen, in denen solche Massigkeit, in denen Körper sich ereignen. Mit Körper ist nun sowohl der menschliche gemeint, als aber auch all die Dinge der Welt. Alles, was uns in ihr so begegnet. Das lässt Eindrücke und Abdrücke zurück. Die Welt der Gegenstände, der Kommunikationen, Begebenheiten, sinnlichen Erfahrungen, Situationen und so fort, hinterlässt Spuren in uns drinnen, die Welt zieht Furchen in uns rein. Und um diese geht es. Um die Abdrücke der Welt im Ich. Jochen Schneiders Zeichnungen zeigen, wie Welt sich anfühlen kann, nicht wie sie aussieht. Nicht Abbild von Wirklichkeit! Gerade Linien malen kann jeder! Ordentlich und korrekt sein auch! Stattdessen: Bei Schneider der Versuch, diese Wirklichkeit so nah an sich heran und hinein zu lassen, dass sie im Ich-Filter fasst ganz verschwindet, und schlussendlich auf dem Papier nicht mehr von ihr zurück bleibt, denn Impuls, denn Anlass für das Zeichnen selbst zu sein. Wirklichkeit ist bei Schneider daher immer schon erlebte, angeeignete Welt. Seine Zeichnungen sind Innenperspektive durch und durch. Das macht sie feindlich und inkommensurabel gegenüber dem Betrachterblick, könnte man meinen. Stimmt aber nicht. Denn weil bei Schneider vornehmlich über die Sinne Aufgenommenes und gerade nicht psychologische Verworrenheiten zum Ausdruck kommen, und weil seine Formen immer so unbestimmt wie verblasste Erinnerung sind, bleiben sie für ein Gegenüber anschlussfähig. Das naturwüchsig Sonderbare an diesen Zeichnungen ist somit beides: Ausdruck allernächster Subjektivität und gleichzeitig Angebot, auch Freigabe an den Betrachter zu einer je eigenen Interpretation. Darin gründet die Offenheit dieser Zeichnungen. Weil sie aber der richtigen Linie, dem korrekten Strich so konsequent abdanken; weil sie es dem Geist verwehren, etwas Eindeutiges in ihnen ausmachen zu können; weil das an Ordnung gewöhnte und ob all der klaren Kategorien phantasielos gewordene Auge auf ihnen so recht eigentlich nichts Richtiges erkennen kann; weil man diese Arbeiten eher erspüren und nicht so sehr verstehen muss – mögen sie für Manchen, nun ja, schwierig sein. Mag das Unprätentiöse an ihnen, ihr fast schon Naives, wie ein Affront gegen das Regelhafte sich ausnehmen. Nur zu! Aber wir wissen es ja besser:

Grenzen können durchlässig werden und die gerade Linie kann jeder. Leichter und schneller ist der richtige Strich gesetzt, als der, dem erst nachgespürt, für den man erst in die Öffnung sich begeben muss, erst an den Punkt sich bringen muss, da der Körper einfließt ins Papier und den Geist lässt, irgendwo dort, außen vor, wo nur noch Kratzen

vom Bleistift ist auf Papier.

Eintöniges.

Leises.

Langsames.

Rauschen.


KONSTANZE SEIFERT.

Jochen Schneider. Puls. Zeichnungen

Galerie en passant

17. Sept. bis 23. Okt. 2010

September 28, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

von Joerg Reichardt, Fotograf.

TEIL 2

*

Nehmt was ihr braucht,

ein Gesicht ist immer ein Angebot.

Offerte.

Pickt euch heraus was ihr wollt,

Rosinenpicker! es geht doch eh nur um euch.

Sucht im Andren euer Ich, damit es bloß zum Du nicht kommt.

Ich ist immer die sichere Seite, bestimmt!

Hast du jemals versucht mich wirklich zu sehen?

Ist dir nicht langweilig vor lauter Ich?



*

Ich.

Ich. Ich. Ich.

Du Ichblinder.



*

Parfois, je me confonds avec le monde.



*

Wunschzettel ans Ich :

* Kein Wunschzettel.

* Ich will niemanden brauchen.

* Mich an keinen abgeben.

* Meine Egoismen nicht an dir austoben,

du sollst nicht Spielball meiner Ängste sein.

* Mein Ich-leben verteidigen, gegen mich.

* Fröhlich sein.

Machst du mit?



*

La vie commence maintenant. Et maintenant.



*

Einmal Vergessen bitte.

Sonst noch einen Wunsch ?

Nein danke, das war‘s.



*

Du hast mich zwischen den Fertigen warten lassen.

Ich dachte du würdest nicht kommen, zu unserem Abschied.

Da dein Gesicht inmitten der Anderen.

Ich sehe dich und kann nicht mehr atmen.

Ich kann nicht mehr atmen, verstehst du?

Alles zieht sich zusammen so sehr muss ich dich.

Laufe neben dir und spreche nicht, denke nicht, atme nicht,

meine Vorsätze bleiben irgendwo hinter mir zurück.

Nach etlichen Tränenschüben

Und einem Gespräch, das nicht geführt wurde

Verlassen wir uns unter Küssen und zum letzten Mal.



*

Komm, inneres Kind, nimm meine Hand.

Wir werden jetzt erwachsen,

zusammen.



*

Would you like to fly to the moon with me?

No.


KONSTANZE SEIFERT

September 21, 2010

Wenn die Farbe zu sich kommt. —

Zur Malerei von Gilbert Pink.

Gilbert Pinks künstlerische Auseinandersetzung ist ganz dem Thema Farbe gewidmet. Seit Beginn seines Künstlerdaseins erforscht er diesen Bereich mit Hingabe und Konsequenz. Um die Farbe in ihrer ursprünglichsten und klarsten Form zu berühren, arbeitet Pink nahezu ausschließlich mit Pigmenten. Übervoll ist sein Atelier mit Gläsern, Schachteln, Behältern, in denen er Farbpigmente aller nur erdenklichen Töne aufbewahrt und die ihn, sofern er davon spricht, sie zeigt, in helle Begeisterung, in Bewunderung für das Medium versetzen: „Es gibt den Punkt, da kann ein Gelb, egal wie viele Pigmente man noch hinzufügen mag, nicht gelber werden. Dann ist Schluss, und man hält das Gelb in seiner Reinform, in seiner extremsten Ausprägung in den Händen.“, so Pink. Solchen Grenz- und Eigenwert, den Farbe an sich darstellt, versucht er in seiner Malerei beständig auszuloten. Das zu tun, lässt er die Farbe ganz bei sich, lässt für sich allein sie sprechen. Nie zwängt er sie in eine bestimmte Form, etwa der Art „roter Kreis auf blauem Grund“, denn solches Vorgehen lenkte die Konzentration nur ab von der Betrachtung des Eigentlichen. „Farbe, so Pink, braucht keine Form, um wirken zu können.“ Darum verweigern sich seine Bilder der Figürlichkeit. Lassen die Farbe stattdessen frei; geben ihr den Raum, den sich zu entfalten sie braucht. In diesem Sinne auch bleibt auf Pinks Leinwänden oder Papieren oftmals ein Teil der Fläche unbearbeitet, bleibt leer und Untergrund, vor dem sich – meist vom Bildrand in Richtung Zentrum – die Farbe ihrer jeweiligen Art und Konsistenz gemäß ausbreiten darf.

Nicht nur die Farbe als Einzelne interessiert Pink. Seine Malerei spürt der Wirkung, die im Verbund sie entfaltet, nach, und erkundet zudem die Wandelbarkeit, die die reine Farbe in Kombination mit anderen Farben erfährt: Wann verliert eine Farbe, und wann gewinnt sie an Aussage und Kraft neben einer anderen hinzu? Welche Umgebung ist ihr in ihrer Wirkung zuträglich, in welcher Kombination erleidet sie Schaden? Auf Harmonie und Konflikt setzt Pink hierbei gleichermaßen; favorisiert ein weiches Miteinander nicht weniger, denn den scharfen Kontrast. Antworten, die sich aus derartigen Fragestellungen ergeben, erschließt Pink sich intuitiv und über das reine Machen. Die analytische, intellektualisierende Herangehensweise schließt er für sein Arbeiten aus. Folglich muss seine Malerei als spontanes Reagieren auf die sich im Malprozess jeweils ergebende Situation verstanden werden. Daher auch die Wichtigkeit des je einzelnen, meist großflächig aufgetragenen Pinselstrichs: Einmal ausgeführt, ist er nicht mehr rückgängig zu machen. Nicht mehr kann an ihm rumgefeilt oder verbessert werden, denn das verdeckte nur seine eigentliche Natur. Malerei so verstanden wird zum Akt. Wir Geste und spontane Äußerung. Solches Vorgehen verleiht ihr einen unmittelbar präsentischen Charakter, bei dem der einzelne Pinselstrich die Zeugenschaft für das Jetzt übernimmt. So gesehen, ist er immer ehrlich. Ist immer ungeschönt und fassadenlos dem Scheitern ausgesetzt. — Oder dem Gewinn! Der stellt sich ein, wo die Komposition in Farbwahl, Rhythmik und Dynamik nicht mehr und nicht weniger denn stimmig ist.

KONSTANZE SEIFERT.