Oktober 18, 2010

Messe, Masse, messen. —

Preview und artforum 2010.

Natürlich, Kunstmessen sind Orte der Kunst, denn nirgends sonst tritt die Kunst in so geballter Ladung auf. Aber auch und vor allem sind Kunstmessen Orte der Wahrheit. Nirgends sonst ist das gegenseitige sich Messen der Positionen untereinander so deutlich, nirgends sonst bricht es mit so einer brutalern Ehrlichkeit und Deutlichkeit durch. So läuft man an manchem Stand einfach vorbei, streift ihn höchstens mit dem Blick, da man weiß, und zwar sofort: eingehende Betrachtung, Zuwendung und Interesse lohnen hier nicht. Obgleich, das Linksliegenlassen der einen und die Begeisterung für die nächste Koje, beides ist nicht geschmacksgebunden, das muss betont werden: Es geht hier nicht um Geschmack. Es geht um die Kunst. Darum, ob sie groß ist und etwas zu sagen hat. Oder klein ist und nur um den eigenen Radius sich dreht. Nochmal, das Urteil hierüber fällen nicht die subjektiven Vorlieben des Betrachters, nein, ihr Urteil fällt die Kunst sich selbst. Sie ist ihre eigene Richterin. Und der aufmerksame Betrachter, er liest in ihrem Urteil nur.

Auf der diesjährigen PREVIEW nun, hat die Kunst sich nicht angestrengt, gar nicht. Kaum waren da echte Positionen zu finden; man sah kaum mehr, als eine lange Aneinanderkettung von vornehmlich sich um das Künstler-Ich drehenden Spielereien. Soviel Selbstbespiegelung, so wenig Denken über das eigene Ich hinaus ( – und überhaupt: wo war der Gedanke?, wo die Auseinandersetzung hin? – ). So wenig Aufbegehren, so wenig Haltung. Nicht einmal Gewalt, Brutalität, Sex, Schocker waren zu finden – obwohl sowas, wo nichts anderes mehr geht, doch immer geht. Stattdessen zeigte sich die Preview artig, präsentierte gepflegte Langeweile, hatte viel Süßes im Angebot.

Unter solchen Kunst-Nettigkeiten kommen die Fotografien des israelischen Fotografen Pini Siluk (vertreten durch die Münchner Galerie mbf-Kunstprojekte) als regelrechte Wachmacher daher. Siluk zeigt Nachtleben in Tel Aviv, zeigt Exzess und vermischt diesen mit politisch Provokantem – mit Stacheldraht vorm vernarbten Jesusgesicht, mit einem sich heißmachenden, verführenden, so sexy Schwulenpaar, mit einer von der Feierei fertigen, im Sessel hängenden Braut. Dahingestellt sei, was von solchen am Kitsch haarscharf vorbei schliddernden Bildern zu halten ist. Zugutekommt ihnen, dass die Fotografien von etwas sprechen, dass sie in einem aufgeheizten Diskursraum Position beziehen, dass sie etwas in die Waagschale werfen, sich exponieren als Angebot. Lust am Anecken, an der Provokation beweist auch die Arbeit von Simone Häckel (vertreten durch Scotty Enterprises, Berlin). Ihre Videoarbeit zeigt das Porträt eines kleinen Mädchens, das, unendlich absorbiert – vermutlich von einem Fernseher, doch wovon genau, das gibt die Arbeit nicht preis – mit den klassisch großen blauen Augen, dem blonden Haar und dem halb offenen Mund, förmlich gefesselt ist und, tief atmend, fasziniert auf einen Punkt nur starrt. Dabei führt sie kleine, minimalsichtbare, regelmäßige Bewegungen aus – wahrscheinlich kratzt sie sich einfach am Knie, drückt ihre Puppe, was auch immer. Und doch: Alle Unschuld, Unvoreingenommenheit, Klarheit, die von diesem Kleinmädchengesicht ausgeht, für den erwachsenen Betrachter hat dieses absolut zurückgenommene Videoporträt unweigerlich einen perversen Touch. Der Erwachsenenblick findet dieses kleine Mädchen einfach pervers, ist in seinem Denken gegen die von ihr ausgehende Erotik schlichtweg machtlos. So. Diese Arbeit sitzt. Und verrät dem Betrachter Sachen von sich, auf die er, wahrscheinlich, lieber verzichtet hätte. Die aus Holz geschnitzten Kinderfiguren des südtiroler Künstlers Gerhard Demetz (vertreten durch Galleria Rubin, Italien) stehen stramm. Die Beine leicht gespreizt, das erhöht die Standfestigkeit, sehen sie aus wie Soldaten, die aufs Gefecht sich einstimmen. Leer geht ihr Blick ins Unbestimmte, in den Händen halten sie Arbeitsgerät, Ölfläschchen, Hammer, Scheren es könnten auch Bomben, Granaten, Maschinengewehre sein. Das passt, denn hinten sind ihre Körper offen, sind hohl. Oder zerfetzt. Trotzdem stehen sie unverwüstbar, wie Maschinen, eben seelenlos und unempfindlich. In ihrer absoluten Nüchternheit sind diese Kinderfiguren erbarmungslos und bewegend. Umso mehr, da von ihnen nichts Belehrendes ausgeht, sie sich nicht in Politik versuchen, souverän auf die große Geste zu verzichten wissen.

Anders das ARTFORUM 2010. Hier wird die große Geste geschwungen, aber hier ist das auch erlaubt, denn hier leitet sie sich nicht aus dem Normativen ab, sondern vom Können. Können überall, Kunst, toll und hohes Niveau! Erst den dritten Stand passiert und schon fängt es an mit Eigen + Art: Außenwand: Tuschezeichnungen von Yehudit Sasportas, die wieder an Zäune, Explosionen und Zerfetztes erinnern, drinnen: Malerei, Neo Rauch, natürlich, auch Tim Eitel, Martin Eder, und bemalt/beschriebene Kartonplatten von Birgitt Brenner. Können also hoch4! Natürlich, war ja auch zu erwarten. Was bleibt da, neben einem aufgeschnappten Dialogfetzen, auch noch groß zu sagen übrig? „Was soll denn der Eitel dort vorne kosten? 140.000 Euro. Aha, ok“, sagt die Besucherin und geht… Hinten dann, am Ende des Gangs und rechter Hand, Arndt. Zeichnungen und Installation von Ralf Ziervogel, der sowieso wieder in aller Munde war, ganz aufgeregt waren sie alle. Das liegt, neben Rummel und Ruhm, auch an den Zeichnungen, deren Akribie und Detailreichtum, deren manischen Gewaltexplosionen, dargestellt in brutal verliebter Perfektion und Vollendung, man sich kaum entziehen kann. Ziervogels Handwerk, sein Humor, die schamlose Übertreibung, Klarheit und Kürze im Gedanken, seine absolut große Geste eben, bestechen. Es lässt sich nicht anders beschreiben, man kann es nicht anders sagen. Groß weiter geht es rechts daneben, Galerie Yvon Lambert zeigt Douglas Gordon und es lässt sich kaum glauben, dass diese unterschiedlichsten Arbeiten ein und demselben Künstlerkopf entstammen, denn so divers sind sie in Sprache, Medium, Ausdrucksform. Verstörend sensibel und einfach nur schön die Videoarbeit Ever, After, All In The Light in der ein weißer Pfau vor beige-braunem Gemäuer alleine seine Bahnen zieht. Der Pfau läuft hin und her, mehr nicht. Ist in dieser Einfachheit Poesie, Melancholie, Langsamkeit. Unheimlicher sind, in der gegenüberliegenden Ecke der Ausstellungskoje platziert, die schwarzen Raben der Videoarbeit Looking Down With His Black, Black Ee. Hier zeigt Gordon nicht mehr und nichts anderes, denn die unruhigen schwarzen Vögel. Mehr braucht es auch nicht, die Vögel erzielen, indem sie unbeobachtet, aggressiv, königlich und stolz ihrem Nachtgeschäft nachgehen, Wirkung genug. Grell, trashig wirken neben diesen leisen Videoarbeiten Gordons Collagen. Sechs Stück an der Zahl, präsentiert jeweils unter Glashaube und auf Apothekerschränkchen. Präsenz und nackte, ungezierte Körperlichkeit ist da. Gordon mischt hier alles: Sex, barbusige und aus Schnitten blutende Frauen; als ethisches Beiwerk daneben immer wieder Bücher mit sprechenden Titeln wie Choosing the best way of life. Eingerahmt sind diese Arbeiten, der Vollständigkeit halber, noch von zwei Textarbeiten: I am the author of my own adiction, heißt es auf der einen Wand, um dem Betrachter auf der gegenüberliegenden Stellwand dann zu versichern: I am the director of my own downfall. Wobei – ganz Vanitas! – die Buchstaben der jeweils letzten Wörter nicht ausgefüllt schwarz sind, sonder einzig mit der Andeutung ihrer sich zufrieden geben – so als wäre eh schon immer klar, dass die lebenspraktische Umsetzung solcher Maximen, nun ja, ein bisschen schwierig ist. Halle 20, Galerie Daniel Templon, Paris mit Oda Jaune und Norbert Bisky. Bisky, das ist der ewig schöne, rosa-orangene Jung-Männeroberkörper, nackt, schön, in sich gekehrt, erhaben gegenüber der Welt, selbst wenn die Welt hinter ihm in der Sintflut zu versinken droht. Biskys Held kommt davon und damit auch sein vor lauter Lebendigem und Jugend und Kraft überbordender Körper – Danke! Neben diesem Sprudelnden ist die von Oda Jaune abgebildete Körperlichkeit mehr Krankheit als anderes. Größer könnte der Kontrast nicht sein. Ein fahles, verformtes Körperstummelwesen im kühlblauen Licht, aber noch schlimmer ist der Faltenwurf der weißen reinen unbefleckten Bettwäsche: so akkurat, so penibel, so neurotisch, so kalt, so gut – Hilfe! Fredric Snitzer Gallery, Miami zeigt Hernan Bas und diese kleinformatige, zurückgenommene, sensible, intensive Malerei hat in ihrer Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit etwas Heilsames. Ganz unprätentiös steht da ein junger Mann, halb nackt, nur in hochgekrempelter Hose und mit der Zigarette in der Hand vor einer offenen Kiste, aus der lauter Weiß raus quillt. Als stünde er vor den Trümmern seiner Vergangenheit. Als müsste er erst mal eine rauchen, damit das Gefundene sacken kann. Der Betrachter wohnt da einem intimen Moment bei, in der ganzen kleinen Malerei steckt Wahrheit drin. Contemporay Fine Arts, Berlin zeigen Schaukästen, das heißt viel eher zeigen sie Ganze-Welt-Kästen von Max Frisinger. Die monsterschweren Glasvitrinen borden über vor so viel Welt und Ding, Objekthaftigkeit und Sache. Da wird einem ganz schwindelig bei. Auch die schicke Italienerin lässt es einem ganz schwindelig zumute werden: „Was soll ein Kasten kosten? 35.000 Euro. Und wenn ich zwei nehme? Dann auch. Gut. Ich bin gleich wieder da, hohle kurz meinen Mann, ich muss mit ihm den Transport besprechen.“ Zwei ältere, distinguiert aussehende Männer haben diese Szene beobachtet, woraufhin der eine seinem Begleiter gesteht: „Also, ich bin wohl zu blöd für die Kunst.“

KONSTANZE SEIFERT.

Oktober 11, 2010

À FLEUR DE PEAU

Textfragmente zur Porträtserie «Rules of Engagement»

von Joerg Reichardt, Fotograf.

TEIL 3

WIR.

- Wie geht’s dir mit ihm?

- Ach, uns geht’s gut, danke.

- Wirklich?

- Jaja, wirklich, echt. Es ist manchmal schon fast unheimlich, wie gut wir uns verstehen, ich wundere mich ja selbst. Wir streiten fast nie. Also ich meine, klar haben wir schon ab und zu kleine Auseinandersetzungen. Sowas bleibt ja in der besten Beziehung nicht aus, sowas ist ja ganz normal in einer Partnerschaft. Und wenn man dann auch noch zusammen wohnt und sich jeden Tag sieht, dann sind so kleine Reibereien ja normal. Aber meist sind das wirklich nur Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Im Großen und Ganzen streiten wir eigentlich nie. Und er ist auch wirklich immer so süß zu mir, liest mir quasi jeden Wunsch von den Augen ab. Er will einfach, dass es mir gut geht und ich glücklich bin, und es geht ihm auch nur gut, wenn es mir gut geht. Er ist so zuvorkommend, liebevoll zu mir. Langsam haben wir auch unsere kleinen Routinen gefunden, unseren Rhythmus, sind mittlerweile ein richtig eingespieltes Team geworden. Wir ergänzen uns so gut. Er setzt mich jetzt morgens immer auf der Arbeit ab, ist ja auch wirklich viel praktischer so. Den Zweitwagen, also mein altes Auto, das haben wir jetzt nämlich verkauft, lohnt sich ja auch gar nicht in der Stadt. Außerdem haben wir fast den gleichen Arbeitsweg, da können wir ruhig auch zusammen fahren, haben wir uns gedacht, ist eh viel schöner. Denn da haben wir immer noch einen kleinen Moment nur für uns, bevor die Arbeit, also bevor der Tag so richtig anfängt. Auf dem Rückweg holt er mich dann auch immer vom Büro wieder ab.

- Echt?

- Jaja, klar! Manchmal muss ich dann zwar ein bisschen länger machen und auf ihn warten, wenn es sich bei ihm im Büro nach hinten verschiebt, wenn noch was Dringendes auf den Tisch kommt und so, aber das mache ich gern, das stört mich wirklich überhaupt nicht. Und außerdem mag er es nicht, wenn ich die U-Bahn nehme, denn man weiß ja nie, was da für Gestalten unterwegs sind, sagt er, und er könnte es sich auch nie verzeihen, wenn mir etwas zustoßen würde, denn er kann sich nicht mehr vorstellen, ohne mich zu leben, sagt er. Er sagt, ich sei sein Ein und Alles. Ist es nicht rührend wir er sich um mich sorgt? Und nach der Arbeit, da gehen wir manchmal noch was essen. Oder ich koche was für uns, aber meist nur eine Kleinigkeit, einen Salat oder so, nichts Besonderes, abends soll man ja eh nicht mehr so schwer essen, wegen der Verdauung und so, und außerdem träumt man dann schlecht. Doch, wir verstehen uns wirklich gut, alles Bestens. Ach ja, und letzten Samstag waren wir auch mal wieder aus, mit unseren Freunden. Erst waren wir im Theater und haben dort dieses Stück von diesem neuen jungen Regisseur gesehen, und dann sind wir alle noch schön essen gegangen, zu viert. Ein richtiger Pärchenabend, sozusagen. Die beiden sind auch wirklich so nett, wir verstehen uns so gut und haben so viel Spaß zusammen. Am Sonntag sind wir dann rausgefahren, einfach mal raus aus der Stadt, spazieren gehen, Natur sehen, mal so richtig die Seele baumeln lassen und sich entspannen. Unser Urlaub ist ja jetzt auch schon wieder so lange her. Wie die Zeit vergeht! Unterwegs haben wir dann dieses kleine Café gefunden, stell dir vor, die hatten sogar selbstgebackenen Apfelkuchen, meinen Lieblingskuchen, weißt du doch. Und auf dem Rückweg sind wir dann noch schnell bei seinen Eltern vorbei gefahren, nur kurz Hallo sagen. Die freuen sich doch immer so wenn sie uns sehen, die beiden. Ich sag dir, die sind wirklich allerliebst zusammen, noch so fit für ihr Alter, so voller Tatendrang. Und jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind und sie auch nicht mehr arbeiten müssen, genießen die beiden ihr Leben noch mal in vollen Zügen. Wir haben dann alle noch zusammen Abendbrot gegessen und sind dann aber nach Hause gefahren, weil es war schon spät und stadteinwärts ist sonntags abends ja auch immer Stau, und außerdem muss man am nächsten Morgen ja auch wieder früh raus, ins Büro.

- Schön! Mensch, das hört sich ja alles wirklich richtig gut an, rundherum zufrieden siehst du aus. Beneidenswert!

- Ja! Ist es auch! Es ist wirklich gut mit uns. Wir sind glücklich zusammen. Wir verstehen uns gut, kommen gut miteinander aus, wir lachen viel, kümmern uns umeinander, machen eigentlich alles zusammen, können über alles offen reden, er versteht mich, wir vertrauen uns, sind uns treu, wir lieben uns. Wir sind glücklich miteinander, wir lieben uns.

- Und der Sex?

- Ach, na der ist natürlich auch gut. Aber du weißt ja wie das ist, irgendwann ist das mit dem Sex gar nicht mehr so wichtig, dann rücken andere Sachen in den Vordergrund, Wichtigeres. Und außerdem haben wir beide auch gerade so viel zu tun im Büro. Da ist man froh, wenn man abends dann seine Ruhe hat und einfach zusammen einschlafen kann. Du kennst das doch, du weißt doch wie das ist.

- Ich weiß wie das ist, verstehe. Irgendwann ist man froh, wenn man seine Ruhe hat.



KONSTANZE SEIFERT.


» Wie Welt sich anfühlen kann. «

Zu den Zeichnungen von Jochen Schneider.

schschschschschschschschschschschsch

Rauschen.

Sei still jetzt, dann kannst du es hören,

sei jetzt still, dann merkst du auch das Fließen,

Grenzen können durchlässig werden, weißt du nicht mehr?

Nimm dich zusammen, Konzentration, wenn du aufmerksam nach innen hörst, ist es dort.

Leises.

rauschschschschschschen.

Stilles.

Kratzen vom Bleistift auf Papier.

Eintöniges.

kchchchchchchchchch

Es verlässt dich nicht.

kchchchchchch

Langsames.

Es hört nicht auf.

Fließendes.

Es zieht immer stärker an dir, bis du

kchchchchchchganz voll davon, Grenzen können durchlässig, du weißt es jetzt wieder, nur noch darum geht es jetzt, das Geräusch und du, es saugt dich auf, Bleistiftkratzen auf Papier, nur Geräusch, Bewegung, rhythmisch, bis dein Körper langsam ins Papier geschmolzen ist.

Über fließt der Körper ins Papier und drückt dort als Form sich aus. Und zwar als reine Form, als Form, die keiner Geometrie, keiner Geradlinigkeit mehr gehorchen muss. Ziemlich unförmig geht es zu in Jochen Schneiders Zeichnungen. Oder urwüchsig. Auch unheimlich. Weil so unkonventionell. Weil so schwierig einzuordnen. Weil so eine Nähe ausgeht von ihnen. Sie rücken regelrecht auf den Leib. Das ist gewollt, denn es geht diesen Arbeiten um Körperlichkeit, um ungezierte, uncodierte Körperlichkeit. Die Zeichnungen kümmern sich mehr um das Erfassen von Massigkeit – etwa von Ausdehnung im Raum, Gewicht oder Emotion – denn um die Begrenzungen und genauen Proportionen, in denen solche Massigkeit, in denen Körper sich ereignen. Mit Körper ist nun sowohl der menschliche gemeint, als aber auch all die Dinge der Welt. Alles, was uns in ihr so begegnet. Das lässt Eindrücke und Abdrücke zurück. Die Welt der Gegenstände, der Kommunikationen, Begebenheiten, sinnlichen Erfahrungen, Situationen und so fort, hinterlässt Spuren in uns drinnen, die Welt zieht Furchen in uns rein. Und um diese geht es. Um die Abdrücke der Welt im Ich. Jochen Schneiders Zeichnungen zeigen, wie Welt sich anfühlen kann, nicht wie sie aussieht. Nicht Abbild von Wirklichkeit! Gerade Linien malen kann jeder! Ordentlich und korrekt sein auch! Stattdessen: Bei Schneider der Versuch, diese Wirklichkeit so nah an sich heran und hinein zu lassen, dass sie im Ich-Filter fasst ganz verschwindet, und schlussendlich auf dem Papier nicht mehr von ihr zurück bleibt, denn Impuls, denn Anlass für das Zeichnen selbst zu sein. Wirklichkeit ist bei Schneider daher immer schon erlebte, angeeignete Welt. Seine Zeichnungen sind Innenperspektive durch und durch. Das macht sie feindlich und inkommensurabel gegenüber dem Betrachterblick, könnte man meinen. Stimmt aber nicht. Denn weil bei Schneider vornehmlich über die Sinne Aufgenommenes und gerade nicht psychologische Verworrenheiten zum Ausdruck kommen, und weil seine Formen immer so unbestimmt wie verblasste Erinnerung sind, bleiben sie für ein Gegenüber anschlussfähig. Das naturwüchsig Sonderbare an diesen Zeichnungen ist somit beides: Ausdruck allernächster Subjektivität und gleichzeitig Angebot, auch Freigabe an den Betrachter zu einer je eigenen Interpretation. Darin gründet die Offenheit dieser Zeichnungen. Weil sie aber der richtigen Linie, dem korrekten Strich so konsequent abdanken; weil sie es dem Geist verwehren, etwas Eindeutiges in ihnen ausmachen zu können; weil das an Ordnung gewöhnte und ob all der klaren Kategorien phantasielos gewordene Auge auf ihnen so recht eigentlich nichts Richtiges erkennen kann; weil man diese Arbeiten eher erspüren und nicht so sehr verstehen muss – mögen sie für Manchen, nun ja, schwierig sein. Mag das Unprätentiöse an ihnen, ihr fast schon Naives, wie ein Affront gegen das Regelhafte sich ausnehmen. Nur zu! Aber wir wissen es ja besser:

Grenzen können durchlässig werden und die gerade Linie kann jeder. Leichter und schneller ist der richtige Strich gesetzt, als der, dem erst nachgespürt, für den man erst in die Öffnung sich begeben muss, erst an den Punkt sich bringen muss, da der Körper einfließt ins Papier und den Geist lässt, irgendwo dort, außen vor, wo nur noch Kratzen

vom Bleistift ist auf Papier.

Eintöniges.

Leises.

Langsames.

Rauschen.


KONSTANZE SEIFERT.

Jochen Schneider. Puls. Zeichnungen

Galerie en passant

17. Sept. bis 23. Okt. 2010