Juni 02, 2010



Ohne Klimbim und Unterhaltungswert —

Carsten Nicolai in der Pace Gallery, NYC.

Sie hatte eine dieser Leggins an, die an Lederimitat erinnern sollen, denen aber selbst das nicht gelingt; schwarz, ein bisschen glänzend. Sie war bestimmt siebzehn und trug High heels, verry high heels. Sie trug Sonnenbrille, drinnen, draußen dämmerte es, kaute Kaugummi und hatte schon diese Lippen: voll, Marke Schmollmund, die Oberlippe zusammengerafft, festgetackert, aufgeblasen und fest. Fast stahl sie der Kunst die Show – großartig!

Carsten Nicolai in der Pace Gallery, New York City, ein Experiment: Nicolai – 1965 in Karl-Marx-Stadt geboren, ehemaliger Landschaftsarchitekt, jetzt erfolgreicher Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft – buchstabiert den Moiré-Effekt durch. Alles dreht sich um Moiré, Titel der Ausstellung: Moiré, selbst die schriftliche Einladung zur Vernissage ist aufgepeppt mit kleinen Moiré-Schablonen. Was ist Moiré?

Das ist ein optischer Effekt, der durch Strukturüberlagerung entsteht. Durch das Übereinanderlegen zweier Schichten eines gleichförmigen Musters – etwa Punkte, Linie, Gitterstruktur – ergibt sich durch Interferenz/Kreuzung für unsere Wahrnehmung eine neue, animiert wirkende Musterstruktur. Man kennt das aus dem zweidimensionalen Bereich (etwa Schablonen, die man im Physikunterricht oder nach Erhalt der Pace-Einladungskarte übereinander schiebt…). Nicolai hingegen überführt den Moiré-Effekt ins Dreidimensionale und der Besucher bastelt und leitet nicht selbst her, sondern steht unmittelbar der optischen Verwirrung gegenüber. In Form von Zeichnung, Licht-Installation, Video, Skulptur (und, natürlich, Ton) geht Nicolai dem qua Überlagerung entstehenden Neuem nach – und setzt den Besucher einem ständigen Flimmern, einer permanenten Wackelei aus. Denn die Arbeiten sind, mit Ausnahme der Zeichnungen, für die Wahrnehmung kaum zu bewältigen. So sehr wimmern, flackern und zucken die fest gespannten und zu Trichter oder Rechteck angeordneten Fäden, dass sie dem Blick ständig ausweichen und ihn auffordern, sich neu zu justieren. Dem optischen Gewackel entkommt nur, wer ständig die (Blick-) Richtung ändert (oder einfach ganz nah an die Arbeiten herangeht). Nur so setzt man die aus der Beschaffenheit unserer Wahrnehmung sich ergebende optische Unruhe außer Gefecht. Und das ist auch schon der Clou:

Moiré zeigt, wie menschliche Wahrnehmung Bewegung kreiert, die eigentlich nicht vorhanden ist – denn die Fäden flimmern ja nicht wirklich, stehen ja still; wie sie eine neue, nur optisch (nicht faktisch) existierende Realität schafft: Unter unserem Blick ändern die Dinge ihren optischen Aggregatzustand, manchmal jedenfalls. Diese Eigendynamik, das in gewisser Weise vom faktischen Sein unabhängige Funktionieren von Wahrnehmung führt Nicolai in seiner Auseinandersetzung mit dem Moiré-Effekt vor. Und stellt es in Frage, denn: Wenn menschliche Wahrnehmung bereits durch die Überlagerung von simplen Musterstrukturen gänzlich schwindelig wird und die Fassung verliert, was ist dann vom „normalen“, vom „gesicherten“ Blick auf die Welt, was vom menschlichen Realitäts-Konzept zu halten? ... — Ô Nicolai reist Dämme ein!

Und dabei zeigt er nur. Dabei sind seine Arbeiten in der Pace Galley vor allem konzentriert in der Sprache der Ästhetik sich bewegende, optische Phänomen-Studien, sind wissenschaftliche Untersuchung in den Mitteln der Kunst – Carsten Nicolai eben, der Querschläger. Studierte Landschaftsarchitektur statt Kunst, um sich nicht die unter den Professoren gängige Kunstsprache aneignen zu müssen, um nicht im eigenen Ausdruck deformiert zu werden. Und man spürt es. Durch Nicolais vornehmlich technische, kopfige, wissenschaftliche Herangehensweise sind seine Arbeiten von dieser angenehmen Kühle durchzogen. Refreshment. Eine Angelegenheit des zwecklosen Zeigens. Reine Konzentration auf ein Phänomen und die aus ihm derivierenden Fragen. Nicolai bei Pace hat nichts mit Ich-Schau, Politik, Statement, Kritik zu tun. Nicolai bei Pace ist reduziert auf den einen Punkt: Was / wie ist / geht Moiré?

Also kein Klimbim —

auf ihren High-heels wankt gekonnt die Lady, um Haltung bemüht, auch ganz schnell davon. Sie hatte ihren Auftritt, that’s it and that’s all what it is about.


KONSTANZE SEIFERT.

Carsten Nicolai – Moiré. The Pace Gallery. bis 25. Juni

www.thepacegallery.com


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