Was Heimat ist?
—
Gedanken zu Jitka Hanzlovás Fotografien.
Jitka Hanzlová hat den böhmischen Wald fotografiert – „Forest“, 2000-2005. Sie hat Frauen fotografiert – „Female“, 1997-2000. Martin Heidegger ging es um das Sein der Dinge. Sein Denken kämpfte und biss sich zur Essenz – er nannte es Wesenheit – der Dinge durch: das Wesen der Sprache, das Wesen des Daseins, des In-der-Welt-seins, der Angst. Die Phänomene in und an ihrer Wurzel zu packen, sie zu benennen, unverstellt und ihrer Wahrheit gemäß war Anspruch seines Philosophierens. Jitka Hanzlovás Fotografieren treibt ein ähnlicher Anspruch. —
Wer Wald in einer derartigen Intensität darzustellen weiß, wem es gelingt, ihn über die Maßen surreal, eigenständig, unantastbar und mächtig zu zeigen, dem ist nicht daran gelegen, nur einen Typ, ein Beispiel von… zu zeigen. Sondern der zielt auf „den Wald an sich“, auf seine Essenz. „Forest“ ist kein Exempel. „Forest“ spricht von Kern/Seele/Sosein des Waldes. Und dabei haucht Hanzlová ihren Motiven nichts ein, sie belebt oder beseelt sie nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Sensibilität ihrer Fotografie vermag zum Vorschein zu bringen, was in den Dingen als Wesenheit – nennen wir es Seele – je schon vorhanden ist. Auch wenn, in thematischer Hinsicht, ihre Aufnahmen weniger den greifbaren, gegenständlichen Objekten hinterher spüren, sondern einem Anderen, Hintergründigerem. Was Hanzlová interessiert, woran sich ihr Fotografieren abarbeitet (und das seit der allerersten Serie) ist, grob gesagt, das Verhältnis zwischen Mensch und Ort, ist die Beziehung, welche der Mensch mit seiner Umgebung unterhält, ist die Beziehung, die Mensch und Umgebung miteinander eingehen und durch die beide aneinander gebunden sind. Um dieses ihr thematisches Spannungsfeld besser einfangen und greifen zu können, lohnt ein Blick zurück.
ROKYTNÍK. 1990.1994, die erste Serie, Hanzlovás Heimatdorf in der tschechischen Republik, welches sie nach Jahren des Exils in Deutschland wieder aufsucht, und sich mit dem Blick des Fremden, der ihr durch die lange Abwesenheit geschenkt ward, fotografisch aneignet, es neu entdeckt. Sofort ins Auge sticht die viele Natur, sticht das Grün – kräftig, klar, fast überbordend – der nicht enden wollenden Wiesen und Weiden. Was auffällt ist das Übermaß an Raum und Platz, das den Menschen auf diesen Fotografien zur Verfügung steht und sich grenzenlos um sie herum entlädt. Manche der Bilder zeigen kleine, intime Stillleben nur – wie etwa der mit Schnee und Eis bedeckte Wäscheständer, auf dem die Wäsche trotz widrigster Umstände stoisch ihrem Ziel treu bleibt und trocknen will; oder wie die tote Sau, die aufgebahrt im nebligen Licht friedlich allein im Schuppen liegt – und trotzdem ist in ihnen Platz. Trotz Intimität und Abgeschlossenheit, in die diese Motive gebettet sind, bleibt ihnen allen Raum. Erzählen sie von einem Davor und Danach, sind sie verwoben in eine gewisse Art der Geschichtlichkeit, ergeben sie eine Erzählung. Kurz: Sie sind bewohnt. Sind belebt von einer ihnen eigenen Körperlichkeit oder Griffigkeit. Etwas Taktiles, Unmittelbares geht von ihnen aus. Auch die Menschen, die auf diesen Bildern zu sehen sind, bewohnen – und zwar in einem ausgezeichneten Wortsinne – ihre Umwelt. Alle interagieren sie nämlich mit der Natur, das ist mit dem Umfeld, welches sie direkt umgibt. Da ist der Jäger, der auf dem Waldweg geschossenes Wild fort trägt; da sind die Kinder, die auf Wiesen oder regennassen Straßen spielen; da ist die weiße Ziege, die mit dem Jungen tanzt. Solche Beschäftigung miteinander, solches Sich-Beziehen aufeinander lässt zwischen Mensch und Umfeld/Natur/Raum ein Verhältnis der Nähe entstehen. Mensch und Umwelt wirken einander nah auf diesen Fotografien. So als gingen sie ineinander auf, oder verschmelzten zu Einem. Und in aller Deutlichkeit ist auf den Bildern abzulesen: Dieser Ort, diese Felder, dieser Schnee, Wald, Horizont, er ist den Menschen ein Zuhause. Darin wohnen und davon werden sie bewohnt. Was man sieht und spürt heißt Heimat. ---
Diese Rückkehr nach Rokytnik, Hanzlovás Ursprung im künstlerischen wie im lebensgeschichtlichen Sinne, war nötig. Nicht nur um die besondere Stimmung, in welche ihre aktuelle Serie getaucht ist, besser einordnen und verstehen zu können. Sondern auch, um den gedanklichen Bogen, der beide Serien miteinander verbindet, genauer nachzeichnen zu können.
HIER. 2003-2010, das Ruhrgebiet, Hanzlovás Wahlheimat seit nunmehr dreißig Jahren. Sofort ins Auge sticht das Aneinanderprallen von Mensch und d Natur: Etwa die unter der Autobahnbrücke weidende Kuh. Oder der leere Spielplatz in der Parkanlage, kein Kind spielt dort. Auch der auf die Mauer gezeichnete Vogel. Paradoxe Situationen sind das, die eher von Koexistenz, denn von einem tatsächlichen Miteinander zeugen. Pragmatisch, rational geregeltes Zusammenleben sieht man da. Mensch und Natur, sie fügen sich nicht wie Zahnräder ineinander, sondern irgendetwas bleibt da holprig zwischen ihnen. Beschneiden tun sie sich gegenseitig, verteidigen vehement ihren angestammten Bereich oder versuchen einen neuen sich zu erobern: Eingepfercht und entwurzelt steht etwa der Tannenbaum unterm gelben Verschlag. Natur überfällt das Feld einer ehemaligen Kohlehalde, sie wächst dort wie wild bis sie den Anschein macht, eine echte, richtige Wiese zu sein – dabei aber nie mehr, als bloß eine zugewucherte Halde ist. Und die Menschen? Und die Bewohner dieser Orte? Blond blickt ein Mädchen in die Kamera, steht still vor dem Feld, welches sich auftut hinter ihr. (Ist es ein wirkliches, ein echtes Feld? Oder ist es bloß Überrest von ehemals benutzter, vom Menschen eingespannter Natur?) Ein anderes Mädchen, dunkel ihr Haar, steht im Schnee und hinter ihrem Rücken ziehen sich dreigeschossige Häuserreihen entlang. Eine Schwangere steht im Garten, und hält ihre Augen geschlossen. Der ehemalige Bergarbeiter steht in seiner kleinen Straße und blickt mit Ringelshirt und Hut schrägen Kopfes in die Kamera. — Sie alle hat Hanzlová vor ihrem Zuhause, vor ihren Wohnungen und Häusern fotografiert; alle atmen sie die Luft ihres nächsten, unmittelbarsten Lebensraums. Und alle stehen sie ruhig. Blicken dem Betrachter klaren Gesichts und unverwandt in die Augen. Was sie dort machen? Warum sie da stehen? Darüber erfährt man nichts. Kein Indiz verweist aufs Davor oder Danach des Fotomoments. Auch bleibt es unmöglich, den Weitergang der Geschichte sich vorzustellen, etwa wohin das Mädchen gleich rennen wird; oder was die Schwangere dann tut; oder welchen Weges der Bergarbeite gleich gehen wird. Denn auf den Bildern ist Stillstand. Denn die Menschen auf ihnen sind wie festgefroren, angewurzelt. Nur der Wind, der über die vermeintliche Wiese pfeift, oder das Gestrüpp, welches das Fenster langsam und stetig bewächst, allein in diesen beiden ist Bewegung. Nicht so in den Menschen. Die sind unbeschäftigt, sind in keine für den Betrachter sichtbare Handlung oder Tätigkeit verwickelt. Bar jeder Beschäftigung tut sich zwischen ihnen und ihrem Umfeld, das spürt man, kein Feld der Kommunikation auf. Auch verweisen die von Hanzlová hier Porträtierten nicht auf ihr Umfeld, nicht auf ihr Drumherum – sie essen kein Eis, gießen nicht die Blumen, streicheln nicht den Hund, spazieren nicht. Stattdessen sind sie einfach nur still. Sind hier, sind präsent und verweisen ganz auf sich selbst. Was ihnen zum Ausdruck bleibt ist ihre Haltung, ist ihre Kleidung, ist ihr Blick (meist gerade und offen, manchmal auch fragend) in die Kamera. So ruht alle Konzentration, die ganze Last des Bildes auf ihnen allein. Ruht auf ihrem Ausdruck, ihrem Wesen, dem was sie ausstrahlen. Dadurch fällt ihr Umfeld, fällt der Raum, von dem sie umgeben, hinter sie zurück, wird Hintergrund. Und die Menschen wirken in ihm wie zusammenhangslos. Wie aus dem Kontext gefallen stehen sich Mensch und Ort dann gegenüber. Jeder für sich. Hier der Mensch, da der Ort. – Dabei beide doch aufs Unmittelbarste ineinander greifen müssten: Denn die Porträtierten, sie stehen ja vor ihrem Zuhause, denn sie sind ja umgeben von ihrem Nächsten. Und trotzdem klafft da eine Lücke! Was auf Hanzlovás Bildern zu spüren ist und was mit aller Deutlichkeit und allem Feingefühl sie einzufangen verstanden hat, ist Distanz. Ist Un-Nähe. Ist Un-Heimatlichkeit.
Wie kommt das? Wie kommt es, dass HIER – eine Serie, bei der Hanzlová einzig die allernächste Umgebung ihres Zuhauses im Ruhrgebiet fotografiert hat – wie kommt es, dass HIER von so ganz anderem spricht, als ROKYTNÍK? Warum erzählt die eine Serie von Nähe, wo von Distanz die andere spricht? Dabei ihr Thema aber ein ganz ähnliches ist: Menschen und ihre Umgebung, Menschen und Orte. Zunächst, es spricht für Hanzlovás extremes fotografisches Gespür, spricht für ihre Sensibilität und Offenheit, dass beide Serien trotz ähnlichen Themas eben nicht das gleiche berichten, sondern sich in Aussage und Bildsprache geradezu diametral voneinander unterscheiden. Was Heimat ist? Ob man sich dagegen wehren kann? Ob man etwas dagegen tun kann? Hat man Heimat einfach und unwiderruflich? Oder macht man sie sich gar selbst? Gängig sind zwei Sichtweisen: Einerseits die Annahme Heimat sei der Ort, an dem geboren und aufgewachsen man ist. Heimat sei Land, aus dem man stamme sowie das Volk, von dem man abstamme. Man kann diesen aus Nähe sich speisenden Begriff aber auch ausweiten und von Heimat als von der ganzen Welt, vom Kosmos sprechen. Dieser theoretische, abstraktere Heimatbegriff nimmt an, dass wir mit allem Existierenden verbunden sind, dass wir in jedem Ort und Winkel der Welt ein Zuhause haben, weil die Erde Hort unseres Daseins, weil sie Heimat ist. In diesen beiden Fällen bedient der Begriff Heimat das Bild einer Nabelschnur. Das eine Mal ist sie ganz kurz und intim, auf den Nahbereich zielend; das andere Mal muss sie weit und umfassend gedacht werden. Gemein ist beiden Auffassungen jedoch, dass man eine Nabelschnur – sprich also seine Heimat – zwangsläufig und immer hat, und daher jedermann notwendig durch sie an einen bestimmten Ort innerlich gebunden ist. Es bleibt jedem selbst überlassen, was von diesen beiden Definitionen zu halten sei. Darüber kann und möchte der Text nicht urteilen. Einzig möchte er zu diesem sensiblen Thema einen Vorschlag machen, der sich aus der Betrachtung von Hanzlovás Fotografien speist, und der am Ende nicht die Gültigkeit einer Definition für sich beanspruchen, sondern einzig als Gedanke stehen und für sich sprechen will. Dass Hanzlovás Aufnahmen vom Ruhrgebiet weniger bzw. anderes von Heimat erzählen, als die Bilder aus Rokytník es tun, soll nicht dem Umstand geschuldet werden, dass die eine Serie in ländlicher, andere jedoch in stätischer Umgebung entstanden ist. Denn solches Denken lässt den Städter immer als den Benachteiligten stehen, weil ihm harmonische Einheit mit der Natur per se versagt bleibt. An der Stadt-Land Dichotomie soll der Unterschied also nicht liegen; dem Städter kann sein Asphalt nicht minder Heimat sein, als es dem Landmensch seine Weiden sind.
Den auffälligsten Unterschied zwischen den beiden Serien hat ihre diesem vorangehende Beschreibung bereits auf den Punkt gebracht: In ROKYTNÍK werden die Menschen als Eingebundene in eine Beschäftigung (und sei sie so gering wie: auf einem Zaun sitzen, über die Wiese laufen oder auch das Baby auf dem Pot) von Hanzlová porträtiert. Die Serie HIER erfährt dem gegenüber eine entscheidende Reduktion. Konzeptueller, abstrakter im Gedankengang fokussiert Hanzlová, im Falle des Porträts, hier allein den Menschen vor der Kamera. Alle Aufmerksamkeit ist dem Individuum, seinem Charakter, dem, was es über seine Körpersprache vermittelt, gewidmet – und der Ort, seine Umgebung tut sich erst im Nachhinein, tut sich als Hintergrund und leicht verschwommen meist auf. Diese Konzentration auf das Individuum in seinem bloßen, puren, stillen Sein, lässt es zwangsläufig einsamer erscheinen. Denn es sticht aus allem mehr heraus. Daher, so die Vermutung, ist es die Handlung, sind es Beschäftigung und die aus solcher immer entstehende Geschichte, die den Menschen mit seiner Umwelt erst verschmelzen lassen, die ihn in diese integrieren und mit ihr eins werden lassen. Heimat basiert demnach nicht auf einem bestimmten Ort allein. Heimat ist nicht nur geografisch zu verstehen. Sondern immer auch aus dem Verhältnis her zu denken, welches der Mensch zu einem Ort aufbaut, vielmehr aufzubauen vermag. Heimat hat in dieser Lesart etwas Aktives. Sie ist die Geschichte, die Erfahrung, ist die Handlung, über die sich der Mensch an einen Ort bindet. Und ist damit nichts, was man aufgrund geografischer Herkunft einfach hat. Vielmehr ist sie ein Handeln. Heimat ist das Nest, das man sich baut. (So man denn mag und kann.) —
Bleibt die Frage, warum sich Hanzlová in der Serie HIER für diese reduzierte, mehr auf das Individuum fokussierende Art der Darstellung entschieden hat und dieses folglich, qua der Bildkomposition, aus seiner Umwelt gewissermaßen heraus löst. Vielleicht weil sie gespürt hat, dass die Beziehung zwischen Umwelt/Natur und Mensch im Ruhrgebiet eine andere, problematischere, konfliktreichere ist und dementsprechend nach einer anderen, diesem Fakt Rechnung tragenden Bildsprache verlangt. Vielleicht, weil Hanzlová gemerkt hat, dass sich Erde und Mensch hier einander weniger leicht hingeben und verschenken. Vielleicht, weil bebaute, zivilisierte, eingepferchte Natur doch weniger ein Zuhause, weniger ein Untergrund für Nähe und Hingabe sein kann, als solche, die man frei sich entfalten lässt. Vielleicht verweigert reglementierte Natur einfach den Kontakt. Vielleicht sprechen die Bilder aus dem Ruhrgebiet nicht von Heimat, weil zwischen Heimat und Wahlheimat eben ein entscheidender Unterschied besteht. Vielleicht, … aber all das sind nur Hypothesen.
KONSTANZE SEIFERT.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen